Souad Abbas . Abwab- Chefredakteurin
“Auf dem europäischen Kontinent leben etwa 480 Millionen Menschen, um die 10% von ihnen sind in den letzten Generationen hierher migriert oder geflüchtet. Diese Zahl schockierte mich angesichts der Geflüchteten, die sich vor den Toren Bulgariens und anderswo drängen.”
So kommentiert der syrische Journalist und Autor George Kadr die Flüchtlingskrise, während er über seinen Film “Wirtschaftsfaktor Flüchtlinge” spricht. Dieser Film, der auf dem Dokumentarfilmkanal von Al-Jazeera gezeigt wurde, behandelt die Flüchtlingsthematik aus ökonomischer Perspektive. Als hunderttausende von Menschen nach Europa flüchteten wurde von ihnen hauptsächlich als Last gesprochen, von den Kosten für ihre Unterbringung und vom Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten. Vollständig verschwiegen wurden hingegen ihr volkswirtschaftlicher Nutzen.
Beispielsweise hieß es, die schwedischen Staatsausgaben seien in den ersten fünf Monaten nach Ankunft der Flüchtlinge im Jahre 2015 um 0,8% gestiegen. Dieses Geld sei für die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge aufgebracht worden, sie hätten damit ihre Einkäufe und ihre Miete bezahlt. Letztlich ist dieses Geld aus der Staatskasse also in die schwedischen Wirtschaft geflossen. Und sind diese 0,8% nicht zu vernachlässigen angesichts der kommenden Generationen, die dem schwedischen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen werden? Schließlich sind die meisten Geflüchteten jung.
Kadr geht davon aus, dass die europäischen Staaten diese Wahrheit nicht offen aussprechen, um weiterhin in der Lage zu sein, die Anzahl der Flüchtlinge zu kontrollieren. Hierbei geht es um die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes, nicht um menschliche Werte. Und als die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes befriedigt waren, ließen die Regierungen das Thema Flüchtlinge komplizierter erscheinen, als es eigentlich ist.
In seinem Film beruft sich Kadr europäische Statistiken und Studien anerkannter Wissenschaftler, die die Regierungen ihrer Länder – etwa Deutschland, Schweden und Belgien – beraten. Er achtet peinlich genau darauf, die Quellen aller seine Informationen zu nennen und verzichtet auf das Anführen arabische Statistiken, um sich nicht dem Vorwurf der Übertreibung auszusetzen.
Kadrs Dokumentation unterscheidet sich von allen Reportagen und Filmen über das Flüchtlingsthema weil sie weniger emotional bewegen als fundiert informieren will. Dass heißt nicht, dass sie die menschliche Seite der Thematik vernachlässigt. Sie lässt sowohl die Geflüchtete zu Wort kommen, die noch immer unter den Anfangsschwierigkeiten leiden, als auch jene, denen es gelungen ist, eine eigene wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Aber der eigentliche Held des Films ist die Information, und nicht das Bild oder persönliche Geschichten.
Drei Jahre lang, sagt Kadr, seien menschliche Schicksale auf eine Art und Weise instrumentalisiert worden, welche das Flüchtlingsthema verhöhnt. Wir alle haben gelitten um nach Europa zu gelangen, und wir alle haben durch unsere Fluch viel verloren. Aber wir sollten aufhören zu weinen und neu anfangen.
Die Mitmenschlichkeit der Europäer kann man nicht hoch genug schätzen, schließlich haben sie getan, wozu die Araber nicht in der Lage waren. Aber das Instrumentalisieren dieser menschlichen Tragödie ist Ausdruck einer Geringschätzung der Geflüchteten und ihrer Ambitionen in Europa.
Einer von drei syrischen Geflüchteten besitzt einen Universitätsabschluss; tausende von Akademikerinnen und Akademikern die einen Verlust für für Syrien und einen Gewinn für Europa darstellen. Aber die Grausamkeit der europäischen Gesetze, so macht der Film deutlich, zwingt auch die Gebildetsten zu enormen Anstrengungen, um ihre Ziele zu erreichen. So müssen zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte enorme Hürden überwinden, um ihren Beruf auszuüben zu können, obwohl es in Europa einen Ärztemangel gibt. In einigen Ländern wie Deutschland, Schweden und der Niederlande ist der Mangel so groß, dass Ärztinnen und Ärzte aus dem Ruhestand zurückgeholt werden. Dabei gibt es doch genügend Geflüchtete, denen man nur die Sprache beibringen und sie weiterbilden müsste, damit sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden.
Kadr berichtet von seinen schmerzlichen Erfahrungen, welche den Ausgangspunkt des Films bilden: Weder seine berufliche noch seine wissenschaftliche Laufbahn galten etwas, die von ihm verfassten Bücher und seine zwanzigjährige Berufserfahrung als Journalist waren wertlos. “In ihren Augen bin ich ein ungelernter Arbeiter, der in Europa bei Null anfängt. Ich habe einfache Tätigkeiten auszuführen, die nicht zu meinen Fähigkeiten passen.”, sagt er. Diese Haltung sei verantwortlich für das Leid der Protagonisten des Films.
Laut Kadr ist der Bedarf des europäischen Arbeitsmarktes ausschlaggebend, nicht die Fähigkeiten der Geflüchteten. Somit ist Europa hauptsächlich an Jugendlichen und jungen Menschen interessiert, was zu den Asyl-Statistiken passt: Ein Großteil der Neuankömmlinge ist jung. Es wird davon ausgegangen, dass sie in etwa sieben Jahren den Arbeitsmarkt betreten werden.
War die Sterberate in Deutschland bis vor Kurzen noch eine der höchsten in Europa, so gleichen sich nun die Geburten- und die Sterberate an. In den Niederlanden und in Schweden ist gibt es eine ähnliche Entwicklung. Vor der Ankunft der Geflüchteten war die Sterberate in Deutschland katastrophal, Studien gingen von einem Bevölkerungsrückgang um mindestens 30 Millionen Menschen bis zum Jahre 2050 aus. Das hätte einen gigantischen Mangel an Arbeitskräften nach sich gezogen und wäre eine Katastrophe für deutsche Wirtschaft gewesen.
Das Ziel des Films sei es, sagt Kadr, den Geflüchteten die Rechnung zu erklären, von der sei ein Teil sind. Sie seien keine Bürger zweiter Klasse und nicht weniger wert als andere, die über die gleichen Qualifikationen verfügen. Eine Studie belegt, dass der Anteil der Abiturienten unter den Syrern in Schweden größer ist als unter den Schweden.
Kadr hofft, dass diese Informationen als Schlüssel dafür genutzt werden, um sich in Europa dauerhaft niederzulassen. Die jungen Geflüchteten sollten wissen, dass Europa sie genau so sehr braucht, wie sie Europa brauchen. Der Arbeitsmarkt stehe ihnen offen, wenn sie sich anstrengen. Denn anders als erwartet werde einem in Europa nichts auf einem Silbertablett serviert. Manche hingen der Illusion nach, nun im Land der Freiheit und der Möglichkeiten angekommen zu sein. Dann schockierte sie die abweichende Realität und machte sie depressiv. Manchen gelang es, wieder aufzustehen, andere verliefen sich in einem Labyrinth aus Traurigkeit und Elend.
https://www.youtube.com/watch?v=sij8V5bLVeI&t=804s
Übersetzung: Mirko Vogel, Mahara-Kollektiv, vogel@mahara-kollektiv.de