Von Lilian Pithan
Als sich im Juli ein Abiturient der Kurt-Tucholsky-Schule in Hamburg weigerte, seiner Lehrerin die Hand zu geben, und dies mit seinem muslimischen Glauben begründete, ging es in den deutschen Medien einige Tage lang hoch her. Debattiert wurde über Höflichkeit und Frauenrechte, den Respekt vor religiösen Werten und die Rolle des Islam in Deutschland. Politisiert wurde die Debatte vor allem durch den Umstand, dass der Konflikt an einer deutschen Schule stattfand. Diese seien staatliche Einrichtungen und der deutsche Staat sei säkular. Religion habe dort also nichts zu suchen, argumentierten einige.
Ganz so einfach lässt sich die „Handschlag-Debatte” aber nicht auflösen: Schließlich findet deutschlandweit an staatlichen Schulen Religionsunterricht staat. Die CDU trägt als große deutsche Volkspartei das „Christliche” im Namen. Und wer beim Finanzamt als Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche gemeldet ist, muss jedes Jahr Kirchensteuer zahlen. Nicht nur auf den zweiten Blick sind in Deutschland Staat und Religion in vielen Bereichen eng verbunden. Doch diese Verflechtungen zu verstehen, ist nicht immer einfach. Das Grundprinzip der Säkularität hingegen ist klar definiert: „Der säkulare Staat ist ein Staat, der auf das rein Weltliche beschränkt ist”, erklärt Stefan Muckel, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Universität zu Köln. „Er hat in religiösen, aber auch in weltanschaulichen Dingen keine Kompetenz.” Der säkulare Staat sei daher zwangsläufig neutral in religiösen Fragen und dürfe nicht Partei für eine bestimmte Richtung ergreifen. Außerdem sei er streng paritätisch, so Muckel: „Im verfassungsrechtlichen Ansatz sind alle Religionen gleichberechtigt. Aber natürlich macht es einen Unterschied, ob eine Religionsgemeinschaft 25 Millionen Mitglieder hat oder 25.000.”
Der Staat löst sich von der Religion
Das Prinzip der Säkularität verlangt zum Beispiel, dass der deutsche Staat sich aus der Diskussion darüber, ob Frauen in der katholischen Kirche zu Priestern ordiniert werden dürfen, heraushalten muss – selbst wenn in Deutschland die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Grundgesetz steht. Auch die Inhalte des christlichen Religionsunterrichts werden allein von den Kirchen festgelegt. In vielen Bundesländern wird mittlerweile auch Islamunterricht an Schulen angeboten. Der Staat darf auch in diesem Zusammenhang nur bestimmen, dass die Lehrenden nach wissenschaftlichen Standards ausgebildet sein und den Unterricht in deutscher Sprache abhalten müssen. Zwingend teilnehmen muss am Religionsunterricht aber niemand – schließlich gewährt der Staat allen Menschen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Das schließt auch die Freiheit mit ein, keiner Religion anzugehören.
Die Säkularisierung in Deutschland war eine Antwort auf die heftigen Religionskriege, die bis ins 17. Jahrhundert in Mitteleuropa wüteten. Angesichts blutiger Auseinandersetzungen zwischen katholischen und protestantischen Mächten schien es immer unmöglicher, ein staatliches Gefüge auf der Basis einer bestimmten Religion zu errichten. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde in Deutschland schließlich das Prinzip „Staatskirche” abgeschafft. Die Weimarer Verfassung, auf deren Grundlage 1919 die erste deutsche Republik gegründet wurde, löste die staatliche Ordnung von den Kirchen ab und garantierte allen Bürgern Religionsfreiheit. Die entsprechenden Artikel wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs ins Grundgesetz übernommen und die Bundesrepublik Deutschland 1949 als säkularer Staat definiert.
Keine eindeutige Trennung zwischen Staat und Religion
Institutionelle Verbindungen zwischen Religionsgemeinschaften und Staat dürfte es also eigentlich nicht geben – wieso wird dann aber Religionsunterricht an staatlichen Schulen angeboten? „Die Trennung von Staat und Kirche ist im Grundgesetz nicht ganz durchgehalten und zwar im Interesse der Menschen”, meint Professor Stefan Muckel. Der schulische Religionsunterricht sei von den Müttern und Vätern der deutschen Verfassung gewollt und deswegen sei man von einer strikten Trennung abgewichen. Mit diesem kooperativen System, dass die Religionen nicht vollkommen ausgrenze, fahre man aber gut: „Dieses System hat etwas, für alle Beteiligten, und bietet dadurch in der Folge auch massive integrative Effekte.” So sei beispielsweise die rechtliche Einbindung nicht christlicher Religionsgemeinschaften kein Problem. „An anderer Stelle kann man sehen, dass das Grundgesetz Verträge zwischen Staat und Kirche stillschweigend voraussetzt, z.B. im Zusammenhang mit der Kirchensteuer”, fügt Muckel hinzu. Je nach Bundesland ist die Höhe dieser Steuer unterschiedlich und wird direkt von den staatlichen Finanzämtern eingezogen, die sie dann an die katholische und evangelische Kirche weiterleiten. Letztere müssen für diese Dienstleistung des Staates zahlen.
Besonders die Kirchensteuer, aber auch andere Kooperationen zwischen Staat und Religion, zum Beispiel im Bereich der sozialen Arbeit, werden immer häufiger kritisch gesehen. In Zeiten massiver Kirchenaustritte – die katholische Kirche hatte 2014 laut Statistischem Bundesamt nur noch 23,9 Millionen Mitglieder in Deutschland, die evangelische 22,6 Millionen – scheinen diese institutionellen Verflechtungen vielen Deutschen unzeitgemäß. Und auch wenn laut Grundgesetz alle Religionsgemeinschaften gleichberechtigt sind, so haben die christlichen Kirchen allein schon durch ihre höheren Mitgliederzahlen im Vergleich zu muslimischen oder jüdischen Gemeinschaften viele Vorteile. So kritisiert beispielsweise die Humanistische Union (HU), eine unabhängige Organisation, die sich für den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte einsetzt, die Vermischung von Staat und Religion im Grundgesetz.
Darf Gott in der Verfassung stehen?
Als Schleswig-Holstein im April dieses Jahres darüber diskutierte, einen Gottesbezug in die Präambel der Landesverfassung aufzunehmen, urteilte Kirsten Wiese aus dem Bundesvorstand der Humanistischen Union: „Ein Gottesbezug in der Verfassung widerspricht nicht nur der gebotenen Neutralität des Staates in religiösen Fragen, sondern auch dem demokratischen Grundverständnis unserer Verfassung.” Trotz aller Modernisierung seien die Dogmen der Religionsgemeinschaften nicht mit den Grundwerten der freiheitlich-demokratischen Ordnung in Einklang zu bringen, so Wiese: „Zwischen den Glaubensinhalten und den Werten unserer Verfassung – den Grundrechten – gibt es bis heute unübersehbare Differenzen, etwa bei den Fragen der Selbstbestimmung über Körper und Leben, privaten Beziehungen oder dem Arbeitsrecht.” Am 22. Juli wurde die Aufnahme eines Gottesbezugs in die Verfassung vom schleswig-holsteinischen Landtag knapp abgelehnt.
Die Humanistische Union verfolgt einen laizistischen Ansatz, der eine radikale Trennung von Staat und Religion vorsieht. Der Begriff der Laizität, dessen Prägung auf den französischen Politiker Ferdinand Buisson zurückgeht, umfasst die grundlegende Gleichheit aller Religionen und die absolute Neutralität des Staates gegenüber allen Religionen. Eine laizistische Staatsform haben unter anderem Frankreich, Portugal, Tschechien und die Türkei, obwohl in letzterer unter Recep Tayyip Erdoğan die Laizität immer stärker aufgeweicht wird. In Frankreich ist es wegen der Laizität grundsätzlich verboten, im staatlichen Schuldienst religiös konnotierte Kleidungsstücke oder Symbole zu tragen. Diese Vorschrift bezieht sich gleichermaßen auf das christliche Kruzifix, die jüdische Kippa und das islamische Kopftuch.
Säkularität bleibt Diskussionsthema
Auch wenn die Laizität einige Befürworter in Deutschland hat, gibt es momentan keine politische Debatte über eine entsprechende Verfassungsänderung. Die allgemeine Diskussion über die Rolle der Religionen in Deutschland wird in den nächsten Jahren aber sicherlich nicht leiser werden. Auch die „Handschlag-Debatte” scheint sich zu etablieren. Schließlich ist der Hamburger Fall nicht das erste Mal, dass ein muslimischer Schüler oder ein Imam sich weigern, einer Lehrerin oder Politikerin die Hand zu geben. An der Kurt-Tucholsky-Schule ist der Konflikt schließlich relativ unspektakulär beigelegt worden: Die Schulleiterin Andrea Lüdtke suchte das Gespräch und schloss den Schüler, trotz entgegengesetzer Forderungen einiger Lehrer, nicht von der Abifeier aus. Dem Hamburger Abendblatt erzählte sie anschließend, dass sie sich am Ende doch noch die Hand gegeben hätten.