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Was vom Familiennachzug geblieben ist

EPA/TOLGA BOZOGLU

Von Fady Jomar

„Jetzt endlich kann ich den Familiennachzug beantragen.“ Das war das Erste, was mir in den Sinn kam, als die Mädchen im Zimmer riefen: „Komm, steh auf, du hast die Aufenthaltserlaubnis bekommen!“

Ein ganzes Jahr hatte ich auf dieses Papier gewartet: ein Jahr, in dem ich die Bombenangriffe auf Aleppo gezählt habe, in dem ich über die Bilder der zerstörten Häuser strich wie eine werdende Mutter über ihren Bauch. Ich spürte die Einschläge der Bomben wie das Strampeln eines Fötus in der Gebärmutter. Ich hörte die Schreie der Menschen und den Lärm der einstürzenden Häuser, hörte die Frequenz des Herzens meines Kindes und meines eigenen. Wie konnte es auch anders sein, wenn mein einziger Sohn dort feststeckte? Ein ganzes Jahr, in dem ich mir die Augenlider mit den Händen zuhalten musste, damit ich schlafen konnte. Ich fürchtete mich vor jeder neuen Nachricht aus Aleppo. Gleichzeitig war ich süchtig nach diesen Informationen und Hinweisen, auf die zu warten quälend und die zu erhalten schmerzhaft war.

Ich erinnere mich an jede Welle und jeden Schritt auf dem Weg zur „Sicherheit“, als hätte ich an zwei langen Seilen gezogen, die in Aleppo endeten: eines in der Hand meines Mannes und eines in der Hand meines einzigen Sohnes. Wie drei Ertrinkende zwischen Zerstörung und Hoffnung, wenn jeder denkt, der andere sei sein Retter. Ich versuche, nicht an den Moment zu denken, wo eines dieser Seile gerissen ist. Der Moment, in dem die ganze Bedrückung und Furcht in dem einen Satz zusammentrafen: „Er wurde gestern bei einem Angriff getötet.“ In diesem Moment waren meine Muttergefühle stärker als alles andere. Ich ignorierte die Nachricht, als ob nichts passiert sei, und antwortete nur: „Und mein Sohn?“ Erleichtert atmete ich auf: „Gott hat ihn beschützt.“

Mein Mann starb, als ich in Wien war. Wie kann man in einer Stadt wie Wien einen Luftangriff als Todesursache akzeptieren? In dieser Stadt war der Widerspruch zwischen dem, was ich sah, und dem, woran ich dachte, abgrundtief. Er ähnelte dem Widerspruch zwischen dem, was ich meinem zehnjährigen Sohn sagte, der in der Hölle Aleppos gefangen war, und dem, was ich über meine gemarterte Stadt hörte. Verzweiflung und Hilflosigkeit überwältigten mich. Ich hatte meinen Lebenspartner verloren und mein Sohn irrte heimatlos in den Ruinen einer zerstörten Nachbarschaft herum, in einer Stadt, die jeden Tag zahlreiche neue Tote gebar. Manchmal gab es tagelang keine Nachricht aus Aleppo, das vom Hunger und den Schrecken der Belagerung zerfressen wurde. Würde ich zurückkehren, um meinen Sohn zu retten? Doch wie kann eine Mutter ihren einzigen Sohn vor Luftangriffen retten, außer indem sie ihn an einen Ort bringt, an dem es keine Luftangriffe gibt? Wir müssen den Weg weitergehen, auf dem es keine Hoffnung für ihn oder mich gibt. Die Hoffnung besteht allein darin weiterzugehen.

Ich beschloss, nicht aufzugeben, und kam mit dem einzigen mir verbliebenen Seil wie mit einer Rettungsleine in Deutschland an. Dort begann das qualvolle Warten. Ein ganzes Jahr, in dem ich mit meinem Mobiltelefon lebte, aus dem schmerzhafte Nachrichten kamen, und mit dem Briefkasten, in dem ich nur Enttäuschungen fand. Während dieses Jahres beobachtete ich, wie ich mich in eine egoistische, hartherzige Person verwandelte. Die Namen der anderen Opfer ignorierte ich. Außer dem Namen meines Sohnes hatte nichts eine Bedeutung für mich.

„Steh auf, steh auf, deine Aufenthaltsgenehmigung ist gekommen.“ Die Stimmen der Mädchen aus der Gemeinschaftswohnung erklangen wie ein Jubeltrillern, denn meine Geschichte war die bekannteste auf der ganzen Etage. Wenn ich mit meinem Sohn über Skype sprechen konnte, war es eine Freude für alle. Sie teilten meine Liebe und Sehnsucht, aber meine Rettungsleine teilte ich nicht mit ihnen, sie gehörte nur mir. Meine Hände zitterten, als ich das Schreiben öffnete. Ich wusste nicht, was es enthielt, obwohl der Absender keinen Raum für Zweifel ließ. Aber die Enttäuschungen, die der Briefkasten immer wieder aufs Neue vor mir ausbreitete, hinderten mich daran, diesem Brief zu vertrauen. Die Aufenthaltserlaubnis wurde unter den Mädchen herumgereicht wie ein Hennateller bei einer Hochzeit auf dem Land. Doch das Licht in ihren Augen erlosch, als sie weiterlasen. Endlich wagte es eine von ihnen, mir zu sagen, dass mir nur Schutz für die Dauer eines Jahres zugestanden wurde und kein vollständiges Asyl.

Die Rettungsleine glitt mir aus der Hand und legte sich um meinen Hals. Schutz für ein Jahr bedeutete, dass ich den Familiennachzug erst nach drei Jahren würde beantragen können. Drei Jahre würden aus meinem Sohn einen Kämpfer machen, wenn er bis dahin nicht getötet worden wäre. Ich brach auf meinem Stuhl zusammen, konnte weder weinen noch schreien noch atmen. Die Stimmen der Mädchen hörte ich wie aus der Ferne: „Hab Geduld, morgen kannst du Widerspruch einlegen. Hab keine Angst, Gott ist gnädig!“

Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Mit dem ersten Sonnenstrahl begann ich, einen Anwalt zu suchen, um Widerspruch einzulegen. Damit begann mein Leidensweg. Vier Wochen verbrachte ich in den Warteräumen der Behörden. Die Beamten kannten mein Gesicht und meine Geschichte. Sie begannen, mich nach meinem Sohn zu fragen. Manchmal bedauerten sie, dass die Behördenvorgänge so lange dauerten, und rieten mir, Geduld zu haben. Am Ende der vierten Woche überwältigte mich ein schreckliches Gefühl. Ich mied mein Mobiltelefon, um vor den Nachrichten zu fliehen. Eine ganze Stunde lang ignorierte ich es. Doch am Ende bezwang mich das Seil in meiner Hand, ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und begann wieder, die Nachrichten zu lesen. Ich fühlte mich dem Ersticken nahe: „Schwerer Angriff auf unsere Straße in Aleppo und keine weiteren Einzelheiten.“

Am nächsten Morgen stand ich im Schlafanzug vor dem nächsten Kopierladen und wartete darauf, dass er geöffnet werde. Der Besitzer kam freundlich lächelnd auf mich zu: „Guten Morgen.“ Ich sagte zu ihm: „Ich möchte ein Foto kopieren.“ Mein rauer Ton ließ ihn zurückschrecken, bis er das Foto sah, das ich kopieren wollte. Da verschlug es ihm die Stimme.

Ich stürmte in das Büro des Leiters der Ausländerbehörde. Nichts hätte ihn daran hindern können, den Sicherheitsdienst zu rufen – außer dem Umstand, dass er meine Geschichte kannte. „Ich brauchte eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre, um meinen Sohn in die Arme zu schließen, aber ich habe nur ein Jahr bekommen. Erlaubt euer Gesetz es mir wenigstens, seine sterblichen Überreste in dieses Land zu bringen?“

Diese Artikelserie wird in Kooperation mit WDRforyou übersetzt und veröffentlicht.

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