„Hier in Deutschland sind Frauenrechte Realität und nicht wie bei uns bloß hohle Phrasen.“ Das sagt sie, ganz selbstbewusst, nachdem sie erfahren hat, dass ich im Bereich der Frauen- und Kinderrechte arbeite. Wir sitzen im Zug, eine Gruppe syrischer Frauen, die sich zufällig gebildet hat. Ich stimme der jungen Frau zu und die Sozialwissenschaftlerin in mir ist sofort interessiert. „Welche neuen Rechte hast du als Frau dazugewonnen und wie wird dein Leben dadurch positiv beeinflusst?“ Ihre Antwort schockiert mich: „Gar keine, im Gegenteil. In Syrien habe ich in einem Friseursalon gearbeitet, gemeinsam mit Männern.
Hier in Deutschland erlaubt mir mein Mann nicht, mit Männern zu arbeiten, die eine andere Religion und andere Traditionen haben.
Eine andere Frau pflichtet bei: „Er hat Recht, wir sind hier in einem fremden Land mit einer fremden Kultur und fremden Traditionen. Natürlich haben unsere Männer Angst um uns! Viele Frauen haben das Vertrauen ihrer Männer ausgenutzt, als diese ihnen erlaubt haben, arbeiten oder studieren zu gehen.“ In dieser kleinen Frauenrunde stimmen manche zu, andere widersprechen. Einige Frauen scheinen bereit, auf ihre früheren Rechte zu verzichten, um ihren Männern nicht zu missfallen, oder aus Angst davor, von jener Gesellschaft, die sie mitsamt ihren Traditionen nach Deutschland mitgenommen haben, verurteilt zu werden.
Die Angst vor Schande ist eine syrische Obsession. Der gute Ruf ist mittlerweile nicht mehr nur im alltäglichen Gespräch gegenwärtig, sondern nimmt auch in den Facebook-Kommentarspalten viel Platz ein.
So zirkulieren in den sozialen Medien Geschichten über Frauen, die neue Wege eingeschlagen und mit Traditionen gebrochen haben, woraufhin sie als unehrenhaft und schändlich beschimpft wurden. Dabei ist es egal, in welchem Verhältnis jene „Geschichten“ zur Wahrheit stehen. Meist ist eine gehörige Portion Übertreibung im Spiel. Ziel ist es, die öffentliche Meinung gegen jede Frau aufzubringen, die ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt.
So bezichtigen Kommentatorinnen und Kommentatoren eine Frau, die sich scheiden lassen möchte, des „Verrats“ oder behaupten sogar, sie liebe einen anderen Mann und ließe ihre Kinder zurück, um ihrer neuen Leidenschaft nachzugehen. Eine andere klagt über das entwürdigende und verantwortungslose Verhalten ihres Ehemannes, der dem Glücksspiel verfallen ist und ins Bordell geht. Man rät ihr, sie solle für ihn beten und geduldig sein, dann werde sich schon alles zum Guten wenden. Vor einer Scheidung und den katastrophalen Folgen für sie und ihre Familie wird gewarnt.
Diese Beispiele zeigen, wie Gegnerinnen und Gegnern des Fortschritts alles daransetzen, um tradierte, patriarchale Strukturen zu bewahren, die in unserer „Muttergesellschaft“ vorherrschen.
Dazu gehört auch die Kette der Bevormundung: Vater, Ehemann oder Bruder werden zum Vormund erklärt, ungeachtet ihrer Kompetenzen. Der Mikrokosmos, in dem Geflüchtete leben, hält diese Strukturen aufrecht, ja er verstärkt sie sogar noch. Deutsche Gesetze, die Frauen Rechte garantieren und sie vor wirtschaftlicher Ausbeutung, häuslicher Gewalt und anderen Einschränkungen ihrer Selbstbestimmung schützen, werden in diesem Kontext bedeutungslos. Mehr noch: Einige Frauen werden in ihren Rechten sogar weiter eingeschränkt, wobei als Vorwand Religion und Tradition genutzt werden.
Was das Ganze noch schlimmer macht, ist der Standpunkt einiger Frauen, die die Unterordnung verteidigen. Sie zeichnen damit ein Bild der Frau als allgemein vertrauensunwürdig und unfähig, selbstbestimmt zu handeln. Das zeigt nicht zuletzt die Aussage der Frau, die ich im Zug traf: „Unsere Männer haben das Recht, Angst um uns zu haben… Viele Frauen haben das Vertrauen ihrer Männer ausgenutzt.“
Es ist, als würde sie sagen: „Wenn es nicht jemanden gäbe, der uns davon abhielte, würden wir uns in Verderben stürzen.“ Oder auch: „Wir sind unfähig und wissen nicht, was richtig und was falsch ist.“
Das wohl schlimmste Beispiel: jene Frau, die stolz behauptet, sie ziehe es vor, die Kontrolle abzugeben und mit einem Mann zu leben, der ihre Bedürfnisse befriedigt und sie behütet, als die Anstrengung auf sich zu nehmen, sich zu bilden oder zu arbeiten. Sie sagt, sie wolle „in ihrem goldenen Käfig ganz frei sein“. Es ist ein Armutszeugnis, wenn eine Frau damit prahlt, dass ihre Familie ihr Freiheiten lässt, als sei das ein großzügiges Geschenk und nicht ein selbstverständliches Grundrecht. Es zeigt, dass viele Frauen sich selbst nicht die Fähigkeit zugestehen, gleichberechtigte Partnerinnen zu sein, die selbstständig Entscheidungen treffen und ihre Zukunft gestalten können.
Das Unwissen über Gesetze, die Schutz bieten, führt zu einer freiwilligen Unterordnung und Angst vor Unabhängigkeit, zur Zunahme von Frühehen, zum Schweigen über häusliche Gewalt und dazu, dass der Traum von Studium oder Beruf begraben wird. Frauen haben Angst, am Ende alleine und ohne jeglichen Schutz dazustehen. Sprachbarrieren erschweren es, professionelle Hilfe aufzusuchen und das Problem richtig darzustellen.
Da viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sozialer Organisationen nur sehr wenig über die kulturellen Mechanismen und patriarchalen Denkmuster wissen, in denen diese Probleme wurzeln, geht ihre Hilfe oft an der Lebensrealität der Frauen vorbei.
Natürlich gibt es sie – die leuchtenden Beispiele geflüchteter Frauen oder Migrantinnen, denen es gelungen ist, auf eine resolute und zugleich respektvolle Art zu erkämpfen, dass ihre Traditionen (wie etwa das Tragen des Kopftuchs oder die Weigerung, Männern die Hand zu geben) am Arbeitsplatz berücksichtigt werden. Damit haben sie sich ermöglicht, selbstbestimmt zu leben und persönliche Erfolge zu erzielen. Jedoch werden die Erfahrungen jener Frauen verdrängt von den Anstrengungen derer, die das Bild der freien Frau, die Unterordnung verweigert, unweigerlich mit der Vorstellung des Sittenverfalls in Verbindung bringen wollen. Um diese Stereotypen zu propagieren, verbreiten sie Geschichten von Frauen, die Opfer von Ausbeutung und Misshandlung wurden. So wollen sie ehrgeizige Frauen, die nach einer Veränderung ihrer schwierigen Lage streben, abschrecken.
Aus dem Arabischen übersetzt von Serra Al-Deen (Mahara-Kollektiv)