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Migrantentagebuch, vierter Eintrag: Zwischen hier und dort

Artwork: Shadi Abousada

Von Marwa Abidou

Das Mittelmeer trennt zwei Welten voneinander

Zwei verschiedene und ähnliche Welten. Das Mittelmeer trennt sie voneinander und bringt sie manchmal zusammen. Das hartnäckige Mittelmeer lehnt die Vermittlung dazwischen ab. Wer zwischen den beiden Welten kreuzen will, hat nur zwei Möglichkeiten: entweder den Luxus, den nicht jeder hätte, auf eisernen Flügeln darüberzufliegen, oder den Zwang, mit der Hoffnung aufs Überleben, sein Leben auf dem Meer zu riskieren.

Dazwischen hängen vergessene Bilder und sich wiederholende Szenen, die sich nur durch die Farben der Hintergründe, die Stimmen der Akteure und die Farbe des dominierenden Angstgeruches unterscheiden. Bei mir blieben die beiden Welten in meinen Erinnerungen hängen: Manche Bilder von hier und manche von dort – ich stehe dazwischen still, bewegungslos und ohne Zeitgefühl.

Hier

Ich erinnere mich an eine neue Art von Glück, die ich hier erlebt habe, als ich zum ersten Mal den weißen Schnee vom Himmel fallen sah. Das gleiche Gefühl formte sich jedes Jahr wieder, wenn ich die Gerüche des Frühlings spürte und die neuen Farben der Bäume sah sowie wenn ich die unerwarteten heißen Sommermomente im Norden erlebte. Mein Gedächtnis enthält von hier mehrere Bilder von unbekannten Kindern, die mich unschuldig anlächelten, wenn wir uns zufällig auf der Straße trafen.

Das Bild meiner alten Nachbarin hier taucht oft in meiner Erinnerung auf. Eine Frau, die mich immer mit einem Lächeln und vielen Geschichten über ihre Kinder und ihren langen Lebensweg getroffen hat. Sie war an Alzheimer erkrankt. Letztes Mal sah ich sie vor dem Aufzug im Haus. Sie lächelte mich wie immer an und sagte: „Ich erinnere mich nicht an dich, vergib mir. Es ist der Fluch der Krankheit, aber mein Herz erinnert sich an gute Gefühle in deiner Anwesenheit!“ Ein paar Stunden danach entschied sie sich, Abschied von unserer Welt zu nehmen.

Dort

Im Laufe der Zeit verblassten sich die Hintergründe der Bilder meiner Kindheit. Sie hinterließen nur wenige Spuren in meinen Erinnerungen, die nicht mehr mit der Realität der jetzigen Zeit zu tun haben. Sie zerstörten meine alte Schule, änderten den Name der Straße, in der ich geboren wurde und entfernten den Baum, den meine Mutter vor Jahren vor unserem Haus gepflanzt hatte. Alle Gesichter, die ich kannte, verschwanden, sowie die Gerüche meiner alten Stadt dort.

Alles, was ich in meinem Gedächtnis mit mir trage, gibt es nicht mehr: das Gesicht meiner Großmutter, die Zahl der Falten im Gesicht meiner Mutter, die alten Bilder meines Vaters, die ersten Briefe, die ich als Mädchen am Strand geschrieben habe und viele Dinge, die nur eine Erinnerung bei mir hinterließen. Ich muss zugeben, trotz der Schmerzen, dass es meine erste Stadt nicht mehr gibt!

Dazwischen

Es blieb nur das Mittelmeer dazwischen, das ich jedes Mal sehe, wenn ich die beiden Welten auf eisernen Flügeln kreuze. In ihm sah ich einige Bilder, die es zwischen den beiden Ufern absichtlich versteckte. Das riesige Meer verwandelte sich in eine blaue Linie, die mehr versteckte als zeigte. Offenbar zeigte es nur die Bilder, die einen Teil der Geschichte der Welt erzählten: An der Grenze zwischen hier und dort stand ein Vater inmitten der Dunkelheit vor seinen Kindern. In seiner Hand gab es ein paar Schwimmwesten, die nicht genug für sie alle waren. Im Hintergrund hörte man die Geräusche der gewalttätigen Wellen des Meeres.

Der Vater sah seinen Kindern tief in die Augen und kämpfte gegen die Worte, die ihn verletzten, bevor er sie aussprach. Er flüsterte ihnen zu: „Macht euch keine Sorgen, wenn ihr einen eurer Geschwister ertrinken seht, schwimmt dann schneller weiter, damit wir unsere Verluste minimieren können. Schaut lieber nur auf die andere Seite des Meeres und nicht hinter euch. Fürchtet euch nicht, meine Kinder. Wir haben keine Wahl und müssen weiter gegen den Tod und fürs Leben kämpfen. Leider ist das Überleben keine Option in unserem Land“. Der Vater erzählte mir, dass er gezwungen war, Abschied von der „Zwischenwelt“ zu nehmen.

Wenige Minuten später „dort“ – am selben Strand – zeigte sich ein Bild eines kleinen Körpers eines Kindes ohne Rettungsweste. Sein Kopf war nach Westen gerichtet, seine Augen waren in einem geschlossenen Winkel nach Osten geneigt und hinter ihm gab es eine auf den Leichen von Toten ruhende Heimat. Sein schwacher Körper konnte nicht von hier bis dort gelangen. Die Wellen hatten ihn in anderer Richtung gegen seinen Willen ans Ufer geworfen. Ich verriet ihm: „Höre mir zu, mein Kind.

Es gibt kein Leben hier an dieser Seite des Meeres, sondern einen langsamen Tod deiner Seele, für das Bewahren von Interessen weniger Menschen, mit denen wir nichts zu tun haben. Sie sind deine Feinde, die du nicht sehen kannst. Sie sind maskiert und mit lauter Worten bewaffnet. Sie wissen ganz genau, wo du bist und was du machst. Sie folgen dir mit ihren Kameras, sehen dich völlig nackt, sogar von deiner Menschlichkeit und führen dich professionell in den Zustand des Todes. Du bist Opfer der Politik unserer Welt, die beschließt, hier und dort zu vereinen oder voneinander zu trennen. Du bist Opfer der Interessen der Rüstungsverträge, die die Grenze zwischen hier und dort aufbauten und die allein entscheiden können, uns hier leben zu lassen oder dort zu sterben.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.

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