von Juliane Metzker
Flucht, Rechtsruck, Fußballfieber – Was haben diese Dinge gemeinsam? Sie erzeugen Bilder in uns. Mit dem syrischen Schauspieler Ramadan Ali blicken wir auf Deutschland und die Welt, wie wir sie gern sehen.
»Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages in Deutschland lebe? Alles, was ich von den Deutschen kannte, war Fußball und Hitler«, sagt Ramadan Ali (31). Wer hätte das gedacht? Ramadan Ali am allerwenigsten. Doch vor 4 Jahren muss er Syrien verlassen – nicht wegen des Krieges, sondern wegen seines politischen Engagements.
Ali ist Kurde aus Nordsyrien. Wegen eines Auftritts für eine in seiner Heimat verbotene kurdische Partei kommt er 3 Monate lang in Haft. Kurze Zeit später flieht er nach Deutschland. Das Land, von dem seine Schulbücher ihm nur Großes berichtet hatten: »Wir haben in der Schule gelernt, dass Adolf Hitler eine Art Superman war – ein Volksbeschützer und ein großartiger Mann. So sahen wir auch die Deutschen.«
Bilder im Kopf – jeder hat sie. Sie machen das Leben leichter und die Welt übersichtlich. Sie kommen zu uns, sobald wir in die Ferne blicken. Dann geht alles ganz schnell: Schublade auf – Nationen, Geschlechter und Ethnien zerlaufen zu einem Einheitsbrei – Schublade zu. Bilder in unseren Köpfen oder auch »pictures in our heads« gehören seit der Steinzeit zum Wesen des Menschen, um Fremde als Fremde zu kategorisieren. Vor 2 Millionen Jahren war das überlebenswichtig und diente der Abgrenzung und dem Schutz der eigenen Gruppe.
Heute helfen die Schablonen für andere Menschen und Lebensweisen auch dabei, Fragen wie diese zu beantworten: Wer bin ich? Wer sind wir? Wer sind die »Anderen«? Denn unser Bild von den »Anderen« hilft uns dabei, eine Identität zu finden und unser Selbstbild zu stärken. Das ist nicht verkehrt. Wir brauchen Orientierung, um das Gefühl zu haben: Wo ich bin, da gehöre ich hin. Und hier, wo viele ein mehr oder minder ähnliches Weltbild vertreten, werde ich auch angenommen. Nur: Wo Menschen dazugehören, gibt es auch Außenseiter.
Als Ramadan Ali in Deutschland ankommt, ist er ein Außenseiter. Verwandte und Freunde aus Syrien fragen ihn: »Was willst du dort? Da sind Nazis. Die hassen die Ausländer!« Die deutschen Behörden schicken ihn von Dortmund über Bielefeld nach München, wo er einen Asylantrag stellen soll. Sein Bruder, der seit vielen Jahren im Ruhrgebiet lebt, warnt ihn noch: »München? Da sind richtig viele Nazis. Vergiss es, Ramo! Da wirst du keine Aufenthaltserlaubnis bekommen.« Ali traut sich trotzdem nach Bayern und bekommt die Aufenthaltserlaubnis.
Ich backe mir mein Fremdbild
Wer möchte schon gern ein Außenseiter sein? Außenseiter sind die, deren Leben, Aussehen und Verhalten in dem Schubladendenken der Mehrheitsgesellschaft verkümmern. Besonders leicht lassen sich Menschen anderer Kulturen, Religionen und Länder dort einordnen. Dabei müssen diese sogenannten Fremdbilder für denjenigen, der sie hat, nicht gleich etwas Schlechtes bedeuten. Sie sind aber meist starr und irrational, da sie versuchen, möglichst viele Menschen auf wenige Attribute zu reduzieren. In ihnen hört das Individuum auf zu existieren.
Ein Beispiel: Seit über einem Jahr liefern uns die Massenmedien die Bilder zu Wut-Bürgern, Gutmenschen, Geflüchteten, Pleite-Griechen, Pegida-Anhängern, AfD-Wählern, Fremden und Fanatikern. Der medialen Konstruktion folgen unsere Bilder im Kopf: Flaggenmeer in Dresden, Syrer an Grenzzäunen, Schwarzafrikaner in Decken eingewickelt nach einem Schiffsbruch, Silvester in Köln, Griechen vor den Banken, Salafisten mit Koranübersetzungen und jubelnde Menschen am Münchener Hauptbahnhof.
Beeinflussen diese Fremdbilder unsere Wahrnehmung? Der Medienwissenschaftler Professor Kai Hafez von der Universität Erfurt ist davon überzeugt. Seit über 20 Jahren analysiert er die Entstehung von Islambildern in Presse, Radio und Fernsehen. Dabei fiel auf, dass über »Muslime in Deutschland« häufig parallel zu Negativ-Themen wie islamistischen Extremismus berichtet wird. Das beeinflusst die öffentliche Wahrnehmung: In einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2014 gaben 57% der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung an, dass sie den Islam als bedrohlich empfinden.
Ich weiß, wie die ticken!
Kai Hafez sagt: »Der Islamdiskurs wird manchmal hoch-, manchmal runtergestuft. Bei Sarrazin und der Mohammed-Karikaturen-Debatte war er plötzlich sehr präsent und massiv. Beim Arabischen Frühling hat man den Begriff Islam kaum gehört. Was einem wiederum zu denken geben sollten, denn 90% der Aufständischen waren Muslime. Wenn etwas Negatives passiert, bestätigt das unsere Stereotype und wenn etwas Positives passiert, dann denken wir gar nicht an einen Zusammenhang.«
Das Phänomen, das Hafez beschreibt, ist als Confirmation Bias (Bestätigungsfehler bzw. Bestätigungstendenz) bekannt. Vereinfacht bedeutet das: Neue Informationen werden von uns so ausgewählt und interpretiert, dass sie unsere Erwartungen erfüllen und so unser Weltbild bestätigen. Das Ergebnis: Informationen, die unsere Erwartungen nicht bestätigen, werden anders wahrgenommen, ignoriert oder gleich wieder vergessen. Wenn im Libanon und Afghanistan muslimische Männer und Frauen für die Gleichberechtigung auf die Straße gehen, ist das für uns eine Ausnahme.
Die Regel sind anscheinend eher radikal-islamistische Gotteskrieger in Geländewagen, die mit Kalaschnikows über ihren Köpfen fuchteln. Die Folge: Die Individualität, die Eigenart des Menschen, wird nicht gesehen. Ein Dialog zwischen uns und dem »Anderen« wird erschwert.
Ramadan Ali kommuniziert von Berufs wegen viel und gern. Der syrische Schauspieler hat seit kurzem eine eigene Web-Serie. Darin spielt er mit dem Fremdbild vom »Flüchtling Ramadan Ali«: Gleich im Vorspann schlüpft er in verschiedene Kostüme. Den orientalischen roten Tarbusch-Hut wechselt er mit der schwarzen Melone, das weiß-rote Palästinensertuch mit der französischen Baskenmütze. Zum Schluss sitzt Ramadan Ali ohne Hut und Oberteil da: eine nackte Projektionsfläche.
Seine letzte Folge im Mai handelte vom »lüsternen Araber«: »Immer wieder höre ich: Deutsche Frauen haben Angst vor uns Flüchtlingen. Das macht mich traurig. Da schäme ich mich. Also mache ich das Einzige, was ich tun kann: Nachfragen.« Gesagt, getan: Auf der Straße sucht Ali das Gespräch. Eine junge Frau sagt ihm: »Kommt auf die Situation an. Vielleicht nachts alleine in der U-Bahn, wenn man komisch angeguckt wird, hätte ich vielleicht Angst. Aber nicht, weil es Flüchtlinge sind, da hätte ich auch vor anderen Männern Angst. Deutsche Männer greifen Frauen bestimmt genauso oft an, nur das wird in den deutschen Medien nicht so breitgetreten.«
Fremdbilder im Realitäts-Check
Ramadan Ali macht’s vor: Er fragt nach und eröffnet Dialoge. Damit unterzieht er Fremdbildern einem Realitäts-Check. Er zeigt: Hinter den Bildern in unseren Köpfen liegen Welten im Verborgenen. Wir scheuen uns davor, sie zu entdecken. Vielleicht machen uns religiöse, ideologische und kulturelle Unterschiede Angst. Dabei lassen wir uns blenden. Wir müssen nicht so leben, wie die »Anderen« – aber wir müssen anerkennen, dass es sie gibt. Wir können herausfinden, wer sie sind, bevor wir uns selbst Angst machen. Das können wir heute schon tun:
. Menschen machen Medien-Bilder: Konkret könnten Redaktionen ihr Reaktionsverhalten und die Umsetzung von Themen im Nachrichtenalltag ändern, meint Kai Hafez. Fremdbilder sind nicht in Stein gemeißelt, sondern je nach Situation und Zusammenhang veränderlich. Heißt: Wird Islam in Deutschland wieder und wieder in einem Atemzug mit deutschen Salafisten thematisiert, fehlt die Distanz. Das gilt auch für andere Themen wie Rechtsextremismus und Pegida-Anhänger, Kriminalität und Migranten. Hafez: »Es muss wieder mehr redaktionelle Linien geben und Reflektion über die Berichterstattungskultur, die man über ein Thema haben will«. Die Verantwortung liegt bei den Medienmachern, die ihre eigenen Bilder im Kopf identifizieren und bewerten können. Und dafür sorgen, dass diese Bilder in Zeitung und Fernsehen nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden.
. Die Welt ist voller Perspektiven: Die deutsche Journalistin Charlotte Wiedemann lebte einige Jahre in Südostasien und reiste danach durch arabische und afrikanische Länder. Über ihre Reiseerfahrungen schrieb sie 3 Bücher. Indem sie in andere Kulturen und Systeme abtauchte, gelang es ihr, die Welt außerhalb von Europa zu betrachten und neue Perspektiven auf insbesondere muslimische Länder und ihre Menschen zuzulassen. Dazu schrieb sie: »Der Mittelpunkt der Welt wandert.
Dieser ganz persönliche Mittelpunkt, den wir – ohne es uns einzugestehen – für die Erdachse halten. Weil wir uns von diesem Ort aus die Welt erklären, ihre Zeichen, ihre Symbole deuten, die Farben, die Gebete. (…) Bei sich selbst zu erleben, wie veränderlich die Perspektive ist, das bewirkte eine nachhaltige und produktive Verunsicherung.« Deshalb fordert sie uns dazu auf, das eigene Weltbild und die Richtung, aus der es kommt, zu hinterfragen. Also: Mehr Mut zur Verunsicherung, die uns antreibt, die Vielfalt der Welt sehen und verstehen zu wollen. Wer dafür nicht gleich in den nächsten Flieger steigen möchte, kann sich auch im eigenen Land oder in der eigenen Stadt auf die Reise machen. Denn Perspektiven gibt es überall.
. Humor und Ironie gegen Fremdbilder: Damit befasst sich die Professorin Martina Thiele, die an der Abteilung für Kommunikationstheorien und Mediensysteme an der Universität Salzburg forscht. Ihre These: »Umkehrung und Stereotypenwandel sind durch Ironie und Humor möglich.« In der Kunst etwa: Als Beispiele nennt Thiele die Street-Art von Banksy und Kunstaktionen von Princess Hijab.
Princess Hijab beschreibt sich als anonyme Straßenkünstlerin. Ihr Arbeitsplatz sind die Pariser U-Bahn-Stationen bei Nacht. Dort verpasst sie Models auf Werbeplakaten ein ganz neues Outfit: Mit tropfendem schwarzen Marker malt sie ihnen ein Niqab – einen Gesichtsschleier. Ihre Taktik dahinter: Die Künstlerin erzeugt das Fremdbild; die Umrisse einer vollverschleierten muslimischen Frau. Was soll das? Ihre Kunst ist nicht religiös motiviert. Sie fasziniert das Symbolische der Vollverschleierten in der Öffentlichkeit; die Isolation und das Rampenlicht, in denen verschleierte Frauen gleichzeitig stehen.
Dieses Paradoxon spiegelt sich in ihren Aktionen wider. Mit der Inszenierung des Niqabs will Princess Hijab neue Perspektiven schaffen und Ängste hinterfragen. Martina Thiele weist jedoch auch darauf hin, dass eine Humor-Ironie-Therapie für Fremdbilder kein Allheilmittel sei. Es gebe auch Risiken. Anstatt sie zu wandeln, zementierten viele Komiker sie bewusst. Ein Beispiel hierfür sei der Comedian Mario Barth, der Geschlechter-Stereotype festige.
Fremdbilder tummeln sich auf weit mehr Ebenen als hier beschrieben. Wie konstruieren sich beispielsweise Bilder in Politik, Bildung und Wirtschaft? Diese Frage lassen wir vorerst offen und wenden uns noch einmal Ramadan Ali zu: Wer ist Ramadan Ali nun? Wie passt er in unser Weltbild? Ist er eine Ausnahme wie unser griechischer Nachbar, der kein Pleite-Grieche ist? Oder wie die nette Oma, die wir jeden Morgen beim Bäcker treffen, die an Pegida-Demos teilgenommen hat? Oder wie die muslimische Arbeitskollegin, die für die Weihnachtsfeier im Büro Kuchen backt? Wie viele Ausnahmen bestätigen die Regel? Ramadan Alis Fazit nach 4 Jahren Deutschland lautet jedenfalls: Nicht alle Deutschen sind Nazis. Für seine Web-Serie beschäftigt er sich nun mit hiesigen Fremdbildern: Er plant ein Interview mit einem Salafisten und einen Besuch beim AfD-Frauenstammtisch.
Juliane Metzker: Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Münster und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in dem Online-Magazin, perspective Daily veröffentlicht.
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