Von Fady Jomar
Hab keine Angst, du bist kein Fremder, denn hier sind alle Fremde. Das sagt Berlin seinen Besuchern. Eine Stadt der tausend Sprachen, Farben und Lieder. Berlin nimmt seine zahlreichen Bewohner und Besucher mit all ihren Eigenschaften in sich auf, an jeder Ecke erklingen Lieder: Musik aus Afrika, dem Nahen Osten und aus allen Ecken der Erde.
Ich war ein Dorfbewohner in meinem Land, nun bin ich ein Dorfbewohner im Exil, gefangen in drei Straßen, auf denen ich ziellos im Schatten der Bäume herumlaufe. Die Bäume in Berlin werfen keine Schatten. Wozu braucht man Schatten in einer Stadt, in der an jeder lichten Stelle Freunde leben? Ich versuche alles, um stabil zu bleiben. Ich möchte nicht in einer Parallelwelt wie in Syrien leben, wie ein Dorfbewohner, dessen größtes Abenteuer es war, in die Hauptstadt zu reisen, um eine echte Pizza zu essen oder um eine Designerhose mit Löchern zu kaufen.
Bin ich den schon ein Rentner?
Ich beschließe, mich der Realität zu stellen und mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ja, ich möchte in der Hauptstadt leben! Ich habe genug von der Schönheit der Rehe im nahen Wald und von der Friedhofsruhe, die zur Hauptverkehrszeit in den Dörfern herrscht. Ich habe noch mindestens 20 Jahre vor mir, bis ich in Rente gehe, da kann ich doch nicht die ganze Zeit üben, wie ein Rentner zu leben!
All das lasse ich zurück und gehe nach Berlin. Ich sehe die eintönigen Straßen und die Gebäude, deren Unterschiede vom Kommunismus wegradiert worden sind. Doch ich sehe auch Gesichter, die sich überhaupt nicht ähneln, eine intensive Durchmischung aller Bewohner dieses Planeten, seiner Kulturen und Zivilisationen. Berlin nach dem Krieg und nach dem Fall der Mauer, eine Stadt die sich geöffnet hat.
Geborgenheit in konzentrierter Fremdheit
Die Menschen in Berlin geben mir eine einzigartige Geschichtslektion: Wenn wir wollen, können wir auf Ruinen ein neues Leben errichten. Wir können Generationen wachsen lassen, die an Menschenrechte und Gleichberechtigung glauben. Wie elend die Generationen der Opfer und Mörder auch sein mögen, ein Wiederaufbau ist immer möglich. Berlin klopft mir auf die Schulter und sagt: „Hab keine Angst, du bist kein Fremder, alle sind hier fremd.“
Und ich, überzeugt von meiner Fremdheit, finde Geborgenheit in der konzentrierten Fremdheit, die diese Stadt ausmacht, die nicht nur eine Hauptstadt ist, sondern eine Kombination aller Hauptstädte dieser Welt. Vielleicht suche ich hier nach Damaskus – nicht nach dem Damaskus, das ich verlassen habe, sondern nach dem, in das ich zurückkehren will. Frei vom Kommunismus und von den Mauern, die uns von der Freiheit trennen und auf denen nur die Zeichnungen der Besucher bleiben.
Dieser Artikel wird in Kooperation mit WDRforyou übersetzt und veröffentlicht.