Mohammad Daoud – Palästinensisch-syrischer Autor
Übersetzung: Serra Al-Deen, Mahara-Kollektiv, aldeen@mahara-kollektiv.de
Ein junger syrischer Geflüchteter hat Monate nach seiner Ankunft einen Aufenthaltstitel erhalten und war danach in der Lage, durch eine Familienzusammenführung seine Frau und drei Töchter zu sich zu holen. Er konnte auch eine Wohnung finden, in der er mit seiner Familie zusammen wohnt. All diese erfreulichen Umstände, die nur sehr wenigen Geflüchteten gegeben sind, hielten den jungen Mann dennoch nicht davon ab, nach Syrien zurückkehren zu wollen.
Denn es widerstrebt ihm, dass seine Töchter – die älteste ist gerade mal sieben Jahre alt – in einer seiner Meinung nach sündhaften und gottlosen Gesellschaft aufwachsen. All unsere Versuche, ihn als Freunde aufzuhalten, scheiterten. Schon bald setzte er seinen Entschluss in die Tat um. Seine Frau und seine Töchter leben nun in Latakia, während er sich in der Türkei aufhält, da es ihm momentan untersagt ist, nach Syrien zurückzukehren.
Ich habe viele syrische oder palästinensische Geflüchtete kennengelernt, die auch Jahre nach Erhalt des Aufenthaltstitels oder sogar der Staatsbürgerschaft, nicht in der Lage waren, sich zu integrieren und die jeweilige Landessprache zu lernen. Dies liegt einerseits an der Schwierigkeit des Spracherwerbs, und andererseits am Fehlen von praxisorientierten Lehrprogrammen, die ihnen eine wirkliche Chance bieten, die Sprache gründlich zu lernen. Es liegt aber auch daran, und das wiegt schwerer, dass manche von ihnen kein Interesse daran haben, mit der Gesellschaft zu interagieren, die sie als komplett fremd betrachten und deren Traditionen und Bräuche, sowie Religion und persönliche Freiheiten sie nicht kennen. Ganz besonders schwer zu verstehen ist die Lage der Frau – nach Jahrhunderten des Schlafs im Harem bleibt der orientalische Geist diesem Faktor gegenüber fassungslos.
Ich denke auch, dass viele der syrischen Geflüchteten noch nicht begriffen haben, in welcher Realität sie nun leben und auch nicht die derzeitige Realität Syriens – ein Land, das zerrissen ist und nun unter den Wölfen der Welt aufgeteilt wird. Sie verstehen nicht, dass eine Rückkehr nach Syrien und ein normales Leben dort zumindest die nächsten zehn Jahre lang unmöglich sein wird, vielleicht sogar länger, gemäß dem, was den Herrschern der Welt beliebt. So haben einige noch nicht angefangen sich ein Leben in der neuen Gesellschaft aufzubauen, und ein Großteil dieser Menschen denkt nicht darüber nach, dass dieses Land möglicherweise für den Rest des Lebens die Heimat sein wird. Dadurch wird das Gefühl der fehlenden Integration und des Desinteresses an wirklicher Interaktion mit den Bewohnern dieses Landes verstärkt.
Ähnliche Probleme konnten wir bereits vor 70 Jahren bei den palästinensischen Geflüchteten in Syrien und den anderen Nachbarstaaten beobachten. Denn obwohl die Ausgangspositionen damals und heute unterschiedlich sind – zum Beispiel was die ethnischen und religiösen Unterschiede zwischen den Geflüchteten und den Aufnahmeländern angeht -, so konnten wir auch dort die Unfähigkeit beobachten, die Realität anzuerkennen, die äußere Umstände den Geflüchteten aufgezwungen haben.
Zum Beispiel konnte mein Vater auch nach mehr als 40 Jahren, die er in Syrien gelebt hatte, kein Wort im Damaszener Dialekt sagen, obwohl er in Damaskus lebte. Er kaufte auch kein Haus, ja nicht einmal ein einziges Zimmer, das uns von der monatlichen Mietzahlung hätte entlasten können. Der Grund dafür war bekannt: Das ist nicht unser Land und wir werden am Ende nach Palästina zurückkehren. Wir brauchen nichts, das uns an einen andere Ort bindet.
Es war stets sein Ziel – und das schien für ihn realistisch – eines Tages nach Jordanien zurückzukehren, den Ort, den er 1970 nach den Kämpfen im September verlassen hatte. Von dort aus würde er zurück nach Palästina, das Land, das er 1967 verlassen hatte. Und auch in diesem Fall passierte was hier wahrscheinlich auch passieren wird; dass die zweite und dritte Generation jener Geflüchteter mehr in der Lage ist, Teil der neuen Gesellschaft zu werden und dass es irgendwann so ist, dass fast gar keine klaren Unterschiede zwischen ursprünglicher Bevölkerung und den Kindern und Enkeln der Neuankömmlinge sichtbar sind.
Und trotz der zahlreichen sprachlichen, nationalen und religiösen Ähnlichkeiten, die im Falle Palästinas und der Nachbarländer vorhanden sind, blieben die Palästinenser doch immerzu abgesondert von ihrem Umfeld, aus Angst vor dem Vergessen und vor der inneren Akzeptanz dessen, dass eine Rückkehr nicht möglich sein wird.
Ohne Zweifel handelt es sich bei dem spezifisch palästinensischen Fall um etwas anderes als bei dem Wunsch nach Integration in Europa. Aber was die beiden Fälle eint ist der Unwillen, die neue Realität zu akzeptieren und diese Ablehnung wird dann zu einer Ablehnung der Integration in die neue Gesellschaft.
Auf der anderen Seite sehen wir viele Geflüchtete, die bereits auf ihr neues, europäisches Umfeld zugegangen sind und die den Wunsch haben, gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Sie identifizieren sich mit den neuen sozialen Gepflogenheiten, was an dem Wunsch des schnellen Spracherwerbs deutlich wird und daran, dass viele ihre Bildung weiterführten und sich auf dem Arbeitsmarkt eingegliedert haben. Gleichzeitig sieht man, dass diese Gruppe den Traum von der Rückkehr keinesfalls aufgegeben hat. Die positiven Lebensumstände sind möglicherweise Beweggrund dafür, ein realistisches Bild des eigenen Lebens anzunehmen und romantisierende, emotionale Tendenzen loslassen zu können. Denn es ist jene Nostalgie, die es dem Geist unmöglich macht, im Leben neue Wege einzuschlagen.
Wichtig zu erwähnen ist noch folgendes: Die Unfähigkeit der europäischen Regierungen, die große Menge der ankommenden Geflüchteten innerhalb einer kurzen Zeit aufzunehmen. Die Verwaltungsinstitutionen in den europäischen Städten waren in ihrer Arbeit überfordert, und konnten nicht die geeigneten Maßnahmen im Umgang mit den Geflüchteten aus dem Nahen Osten treffen. Dies schlug sich auch im Umgang und den Gesetzen nieder, die potenziell die Integration dieser Geflüchteten hätten vereinfachen können – zumindest für die Zeit ihres Aufenthalts in Deutschland.