Alia Ahmad*
Angesichts der gewaltigen Herausforderungen, der sowohl die Geflüchteten als auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft gegenüberstehen, wird der besonderen Lage Minderjähriger oft nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Viele andere Probleme drängen sie in den Hintergrund: Vom Aufenthaltstitel und der Familienzusammenführung über die Suche nach einer angemessenen Wohnung bis hin zu den Sprachkursen und dem bürokratischen Papierkrieg mit dem Jobcenter.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Kinder keine ernsthaften Probleme hätten. Schließlich leben sie in Wohlstand. In den Kindergärten und Schulen kümmert man sich um sie und sorgt sich um ihr Wohlergehen. Ihnen mangelt es weder an Spielgelegenheiten noch an anderen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Und sollte es doch Schwierigkeiten geben, so handle es sich um Einzelfälle, die besonderen Umständen geschuldet sind. Um zu erkennen, dass sich das Thema nicht so leicht vom Tisch wischen lässt, reicht es, den Familien dieser Kinder zuzuhören, ein Gespräch mit ihren Lehrern und Erzieherinnen zu führen, oder sie in Alltagssituationen auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln zu beobachten. Die Schwierigkeiten minderjähriger Geflüchteter sind keine Einzelfälle, sondern stellen eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, welche nur gemeinsam bewältigt werden kann. Die Familien, die deutsche Gesellschaft und auch die Kinder selbst brauchen hierfür viel Kraft und Mut.
Anders als für Erwachsene stellt die deutsche Sprache für Kinder keine zentrale Herausforderung dar. Sie erlernen sie mit beeindruckender Geschwindigkeit. Aber diese Gabe ist auch eine Bürde, weil sie aus Kindern Sprachmittler für ihre Familien macht. Immer wenn die sprachlichen Fähigkeiten ihrer Angehörigen nicht ausreichen, müssen sie dolmetschen: Bei Ämtern, in Arztpraxen und sogar im Supermarkt. Oft sind die Eltern stolz auf die Sprachkenntnisse ihres Kindes und vergessen dabei, dass sie ihm eine Aufgabe aufbürden, die keinesfalls kindgerecht ist. Auch wenn Sprachmittlung jeweils einer spontanen Notwendigkeit entspringt, so handelt es sich doch letztlich um eine Art von Kinderarbeit. Diese Arbeit bringt das Kind mit Lebensbereichen in Kontakt, die seinem Alter nicht angemessen sind, was ihm oft psychischen Schaden zufügt. Ein Beispiel hierfür ist die Sprachmittlung in einer Arztpraxis, wo über Themen gesprochen wird, welche die Aufnahme- und Verständnisfähigkeit des Kindes übersteigen.
Das Kind übernimmt aber nicht nur die Rolle des Sprachmittlers für seine Familie, es wird auch ihr Lehrer. Manchmal führt diese Rolle dazu, dass es den Respekt vor seinen Angehörigen verliert, denn es weiß, was sie nicht wissen. Insbesondere pubertierende Kinder rebellieren dann gegen ihre Eltern und zeigen ihnen ihre Geringschätzung. Die emotionalen Reaktionen der Eltern, welche manchmal gewaltsame Formen annehmen können, führen zu einer weiteren Entfremdung des Kindes von seiner Familie: Es sieht schließlich in seiner Familie “den Anderen”, dessen Lebenswelt gänzlich abgekoppelt von der eigenen ist, sei es im Kindergarten, in der Schule oder im Freundeskreis.
Aber die Welt der Eltern, so fremd sie dem Kind auch erscheinen mag, ist ein essenzieller Bestandteil seiner Biographie. Je länger das Kind in seinem Ursprungsland gelebt hat, desto bedeutender und einflussreicher sind die Erinnerungen an diese Zeit. Diese Erinnerungen sind es, die widersprüchliche Gefühle im Kind erzeugen. Es ist hin- und hergerissen zwischen der alten Identität und der mit ihr verbundenen Erinnerungen, welche die Familie stets bestärkt, und der neuen Lebenswirklichkeit.
Auf der anderen Seite weiß die deutsche Gesellschaft sehr wenig über die Hintergründe dieser Kinder, und manches will sie auch nicht wissen. Viele Menschen, die mit Flüchtlingen arbeiten, sehen es nicht als ihre Aufgabe an, die Hintergründe der Kinder zu ergründen. Ihrer Meinung nach ist das System der Willkommensklassen ausreichend, um die Unterschiede zwischen den geflüchteten und den deutschen Kindern durch Sprachunterricht auszugleichen, damit sie dann später in gemeinsame Klassen gehen können. Dieser Ansatz ignoriert die Gewalterfahrung, die diese Kinder in ihrem Ursprungsland und auf dem gefährlichen Weg zum ersehnten Paradies gemacht haben. Diese Erfahrung blitzt hier und da auf, sei es bei Gewalt gegenüber Mitschülern, bei Problemen innerhalb der Familie oder sogar bei der Zerstörung von öffentlichem Eigentum.
Ein Flüchtlingskind hat seinen Altersgenossen viele Erfahrungen voraus, und die meisten davon sind nicht positiv. Unter den psychologischen Folgen leiden das Kind und sein Umfeld, Tag für Tag. Darum ist es nötig, der Lage dieser Kinder mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
“Die Lehrerin stellt mir dumme Fragen.” Das sagt der achtjährige Majd, der seit zwei Jahren in Deutschland lebt. Als seine Mutter nachfragt, was er damit meint, erklärt er: “Nachdem wir meinem Freund ein Geburtstagslied gesungen hatten, verteilte seine Mutter Kuchen. Da kam die Lehrerin zu mir und fragte mich: Kennst Du das? Gibt es in Syrien Kuchen?” Verärgert fügt Majd hinzu: “Sie glaubt, dass wir in Zelten leben. Sie weiß nicht, dass wir ein Haus hatten, das von Bomben zerstört wurde!”
*Alia Ahmad. Syrische Kinder- und Frauenforscherin, lebt in Deutschland.
Übersetzung: Mirko Vogel, Mahara-Kollektiv, vogel@mahara-kollektiv.de