Von Lilian Pithan
Als Dschawad nach 15 Jahren aus den Kerkern des syrischen Geheimdienstes entlassen wird, ist nichts so, wie es sich seine Geliebte Anat vorgestellt hatte. Ein halbes Leben hat sie auf diesen Mann gewartet, der wegen seiner Mitgliedschaft in einer kommunistischen Vereinigung verhaftet worden war. Jahrelang hatte sie nur in Briefen mit ihm kommuniziert, die sie in lila Kerzen versteckt, in gefüllte Zucchini gestopft oder in das Futter eines alten Wintermantels eingenäht hatte. Während Dschawad in den Händen seiner Folterknechte Höllenqualen erleiden muss, kümmert Anat sich um ihre an Krebs erkrankte Mutter Dschamila und erträgt die weinerlichen Gefühlsausbrüche ihres dichtenden Vaters Hassan. Mit ihrer Freundin Mayyasa teilt sie das Schicksal, einen Mann zu lieben, der im Gefängnis sitzt. Als Iyad zurückkehrt, wird schnell deutlich, dass er nicht der gleiche ist: Jahrelange Erniedrigungen haben ihn wenn nicht gebrochen, so doch in den Augen Mayyasas übertrieben dünnhäutig und liebesbedürftig werden lassen. Seine überbordende Sexualität stößt sie, deren Leben vor allem um die gemeinsame Tochter Diana und ihre makrobiotische Diät kreist, immer heftiger ab. Anat eilt derweil durch die Straßen von Damaskus, wo sie in der kanadischen Botschaft als Dolmetscherin in Asylsachen arbeitet. Auch Dschawad ist mittlerweile freigekommen und liebt Anat mehr als je zuvor. Trotzdem wird ihre Beziehung mit Beginn einer Schwangerschaft, die eigentlich nur Anat wollte, zu einem beständigen Kampf, in der einer dem anderen die Entbehrungen der letzten 15 Jahre vorhält. Die syrische Romanautorin Rosa Yassin Hassan konzentriert sich in Wächter der Lüfte vor allem auf die Zurückgebliebenen, die das Leben mit der plötzlichen Einsamkeit und Angst erst erlernen müssen. Sehr freimütig beschreibt Hassan, wie Anat und Mayyasa an ihrem eigenen sexuellen Begehren verzweifeln und jeweils unterschiedliche Wege finden, es zu stillen. Ob sie dem inhaftierten Geliebten dabei untreu werden, ist eine Frage, die weder Anat noch Hassan sonderlich bewegt. Weibliche Sexualität wird in Wächter der Lüfte, entgegen allgemein verbreiteter Stereotype, als ebenso notwendig wie die männliche dargestellt. Dass man sie nicht permanent unterdrücken kann, versteht sich von selbst. Hassan springt in ihrem Text immer wieder von einer Figur zur nächsten. Zu ihnen gehören auch einige der Asylbewerberinnen, mit denen Anat es in der kanadischen Botschaft zu tun hat, und ihre Mutter Dschamila, die als Kind mit dem Ehemann ihrer verstorbenen Schwester verheiratet wurde. Diese Erzählstimmen wechseln sich von Paragraf zu Paragraf ab und schaffen ein feines Gedankengewebe, das sich über die komplexe, mehrere Jahrzehnte umspannende Romanhandlung legt. Ob Anats und Dschawads Liebe noch zu retten ist, interessiert dabei weniger, denn der Fatalismus, mit dem Anat über ihr Leben räsoniert, lässt dies kaum erwarten. Lesenswert ist Wächter der Lüfte vor allem wegen der hohen Erzählkunst seiner Autorin. Kein Wunder, dass es der Roman 2009 auf die Longlist des arabischen Booker Prize geschafft hat.
Rosa Yassin Hassan: Wächter der Lüfte, übers. von Stephan Milich und Christine Battermann, Alawi Verlag, 340 Seiten, 12 Euro