Tarek Aziza
Die syrische Tragödie: Umkämpfte Erinnerung
Seit dem Ausbruch der syrischen Revolution ließen das Assad-Regime und seine Verbündeten keine Tag verstreichen, ohne die Tatsachen zu verdrehen oder Fakten zu unterschlagen, um ihr Narrativ der Ereignisse in Syrien zu etablieren: Eine Verschwörung fremder Mächte, die ihre Ziele durch Terrorismus und Propaganda zu erreichen suchen, wobei sie sich auf ein gewaltiges, von ihnen finanziertes PR-Netzwerk stützen. So gelang es dem Regime mit Hilfe konzertierter Kampagnen, insgesamt fast 200.000 YouTube-Videos, die von Assad und seinen Verbündeten begangene Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentieren, als “radikale und gewaltvolle Inhalte” sperren zu lassen. Dabei könnten diese Videos als Beweismittel in einem Gerichtsprozess dienen, um die Verantwortlichen für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen.
Viele Syrer und Syrerinnen, die aus Assads Hölle entkommen konnten, setzen ihren Kampf im Exil fort, auf dass das millionenfache Opfer der Getöteten, Versehrten und Verschleppten nicht vergebens sei. Als Journalistinnen, Autoren und Künstlerinnen arbeiten sie daran, die Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen sowie die Erinnerung an die syrische Revolution, diesen Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit, vor Fälschungsversuchen zu schützen und vor dem Vergessen zu bewahren. Vor diesem Hintergrund ist die Nominierung der syrischen Dokumentationen “Für Sama” und “The Cave” für den Oskar in der Kategorie Dokumentarfilm als Beleg dafür zu werten, dass diese Bemühungen Früchte tragen, allen Sabotageversuchen zum Trotz.
Der Kampf um die Erinnerung an die syrische Revolution wird auch in Zukunft eine zentrale Herausforderung darstellen. Denn sowohl unsere individuelle als auch unsere kollektive Rettung wird unvollständig und fragil bleiben, wenn es uns nicht gelingt, auch unsere Geschichte zu retten: Das syrische Volk verlangte Freiheit und ein menschenwürdiges Leben und wurden darum vom Regime so lange getötet, verhaftet und ausgehungert, bis es fliehen musste und sich im Exil zerstreute.
Aber selbst das Konzept “Rettung” bleibt von den schamlosen Manipulationsversuchen des syrischen Regimes nicht verschont. Als Präsident Assad, der Hauptverantwortliche für die syrische Tragödie, von der italienische Journalistin Monica Maggioni gefragt wurde, ob es sich selbst als “gerettet” empfände, antwortet er mit dem üblichen Gewäsch vom “Krieg gegen den Terror” und der “Bombardierung durch fremde Mächte”, und schloss mit der Behauptung, alle Syrer seien gerettet! Bekanntermaßen waren die Fragen mit dem Präsidenten abgesprochen und so ausgewählt, dass sie seinen Interessen dienten, weswegen der italienische Sender Rai24 entschied, dieses professionelle Standards mit den Füßen tretende Interview nicht zu senden.
Auch wenn der Kampf um die Erinnerung und für Gerechtigkeit lang und mühsam ist, so gibt es doch keine Alternative. Denn wir Syrerinnen und Syrer können der syrischen Tragödie nur dann wirklich entkommen, wenn Assad mit seinen Taten nicht durchkommt.
Übersetzung: Mirko Vogel, Mahara-Kollektiv
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