George Kadr. Syrischer Autor, Wissenschaftler und Medienschaffender
Eine griechische Sage erzählt die Geschichte des Prokrustes, dem Sohn des Meeresgottes Poseidon, der von Beruf Schmied war und der all jenen, die seinen Weg kreuzten, ein grausames Schicksal bereitete. Er lebte auf dem Berg Aagalos in einer Burg, die an dem Weg nach Athen lag. Aus diesem Grund kamen all jene an ihm vorbei, die auf dieser Fährte reisten. Prokrustes besaß ein Eisenbett, dass der Länge und Breite nach genau auf seinen Körper abgemessen war.
In seiner Burg empfing er Reisende, die über Wasser oder Land zu ihm gelangt waren, stets mit offenen Armen. Die Gastfreundlichkeit endete jedoch, als es Zeit wurde sich zu Bett zu legen. Dann geleitete Prokrustes seine Gäste in sein Eisenbett, wo das Grauen beginnen sollte. Denn sollte der Gast größer als das Bett sein, so hackte er ihm seine Gliedmaßen so zurecht, dass sie ins Bett passten. Und sollte er kleiner sein als das Bett, so würde er den Körper seines Opfers auseinander strecken, bis Gelenke brechen würden. Der Körper des Gastes musste den Maßen des Eisenbetts entsprechen, das war das einzige, was zählte.
Sind die europäischen Integrationsgesetze mit dem Bett des Prokrustes vergleichbar?
Natürlich sind menschliche Körper sehr unterschiedlich, weswegen niemand von Prokrustes’ grausamer Praxis verschont bleibt. Aber die Unterschiede beschränken sich nicht auf die Körpergröße, Menschen unterscheiden sich auch in ihren Einstellung, ihrem Bildungsgrad und ihrer sozialen Herkunft. Die Integrationsgesetze in Europa berücksichtigen jedoch nicht den individuellen Hintergrund der Geflüchteten, weshalb sie den Effekt des grausamen Prokrustesbettes haben. Es sind Gesetze, welche die Zukunft der Geflüchteten zurechtschneiden. Letztere müssen alles, was sie in ihrer Heimat erreicht haben, hinter sich lassen um sich den Notwendigkeiten der neuen Wirklichkeit gemäß neu zu erfinden. Ihre Pläne und Wünsche spielen hierbei keine Rolle. Sicherlich wird dies Narben hinterlassen – sowohl im Integrationsprozess als auch bei der persönlichen Entwicklung der Geflüchteten in ihrer neuen Realität. Verschlimmert wird die Situation dadurch, dass europäische Regierungen sich weigern, Geflüchtete als Staatsbürger von morgen anzuerkennen, und sie stattdessen weiterhin als Gäste betrachten.
Es ist zweifelsohne so, dass die europäische Union aufgrund des Zustroms von hundert Tausenden von Geflüchteten eine großen Schock erlitten hat. Die Menschen, die kamen, flüchteten vor dem dunklen Schicksal, das sie in ihrer Heimat ereilt hätte, ganz besonders trifft das auf Geflüchtete aus Syrien zu. Und es ist wohl wahr, dass die EU nicht vorbereitet war, die Last der Aufnahme so vieler Geflüchteter zu tragen, und dass Gesetze noch nicht auf den idealen Umgang mit einer solchen Situation angepasst waren. Dies legitimiert jedoch nicht, dass Staaten, die Quantensprünge bei der Aufarbeitung des Erbes und der Nachwirkungen zweier Weltkriege geleistet haben, auf eine solch problematische Art mit den jetzigen Neuankömmligen umgehen.
Das erste Problem beim Umgang mit Geflüchteten
Das erste Problem liegt in der konstanten Vermischung zweier Begriffe: Der Migranten und der Geflüchteten. Geflüchtete sind Menschen, die vor lebensgefährlichen Zuständen in ihren Heimatstaaten fliehen. Ihnen wurde das Leben im Asyl zwangsläufig auferlegt. Für sie ist es ein leidvoller Weg, sich in eine neuen Gesellschaft einzugliedern, zumal sie dort Gesetze antreffen, die ihre Träume und bisherigen Errungenschaften wie Abschlüsse, für die sie in ihrer Arbeit hart gearbeitet haben, in keiner Weise achten.
Die meisten europäischen Regierungen setzen auf kurzfristige Lösungen. Dabei geht es darum, Geflüchtete schnell in den Arbeitsmarkt einzugliedern, selbst wenn sie noch nicht vollständig in die neue Gesellschaft integriert sind. Dabei gibt man sich zumeist mit einem sehr niedrigen Sprachniveau zufrieden, das nur ausreicht um einfachere Arbeiten und Dienstleistungen zu vollbringen. Stattdessen könnten sie ermutigt werden, sich auf lange Sicht effizient in die neue Gesellschaft einzubringen, jene Gesellschaft, die eines Tages für sie zur Heimat werden wird. Dabei ist ja die Mehrheit der Geflüchteten erst seit zwei oder drei Jahren im Zuge der Migrationswelle im Jahr 2015 nach Europa gekommen.
Das zweite Problem: Ein Mangel an wissenschaftlichen Studien
Es mangelt an Studien, welche die Lage Geflüchteter umfassend, unter sozialen, psychischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten untersuchen. Erfolgreiche Versuche Geflüchteter, sich rasch an Universitäten einzuschreiben, wirtschaftliche Unternehmungen zu starten oder sich im Arbeitsmarkt einzugliedern, erhalten keine Beachtung. Der Fokus wird stattdessen stets auf das Bild der Migranten als Last und Quelle von Problemen gesetzt.
Dabei gibt es Statistiken aus denen hervorgeht, wie Deutschland von den Geflüchteten profitiert.
Vergleicht man die Zahlen des Landesamts für Statistik Niedersachsen für das Jahr 2017 mit denen des Vorjahres, so ergibt sich nämlich Folgendes:
Das Bruttoinlandsprodukt von Niedersachsen wuchs in der ersten Hälfte des Jahres 2016 um 1,7% , im Jahr 2017 betrug dieser Wert sogar 2,1%. Das heißt, dass es sich um ein höheres Wachstum als das des bundesweiten BIP handelt, welches sich auf 2,0% beläuft.
Die Anzahl der dem Arbeitsmarkt neu zur Verfügung stehenden Menschen soll sich laut Statistik im Jahre 2016 um 0,8% auf fast 4 Millionen Menschen gesteigert haben. Währenddessen ist die Arbeitslosenquote auf 6,1% gesunken, also um 0,4%. Im Jahr 2017 überschritt die Anzahl der neu in den Arbeitsmarkt integrierten Menschen zum ersten Mal die 4-Millionen Marke, das bedeutet eine Steigerung von 1,1%.
Die Situation in Niedersachsen ist in großem Maße auf die anderen Bundesländer übertragbar. Gerade weil es sich bei der Mehrheit der Geflüchteten um junge Menschen unter 30 Jahren handelt, die, sollte ein Integrationsprogramm angeboten werden, das ihre Potentiale sorgfältig ins Auge nimmt, schnell in der Lage wären sich mit ihren Fähigkeiten und Ausbildungsabschlüssen produktiv am Arbeitsmarkt zu beteiligen.
Aus rein wirtschaftlicher Sicht hat sich der Zustrom an Geflüchteten also gelohnt: Junges Blut erfüllt nun all jene Gegenden, in denen eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung zu beobachten ist, in denen also mehr Menschen sterben als geboren werden. Aus einem wichtigen Wirtschaftsbericht, den die Deutsche Welle in Verbindung mit dem Flüchtlingszustrom veröffentlichte,
geht hervor, dass mehr als 15 % der syrischen Geflüchteten Hochschulabsolventen, meist Mediziner oder Ingenieure, sind. Dabei wird aufgezeigt, dass die 7-Jähre Ausbildung zum Arzt in Syrien ungefähr eine Million Dollar kostet, während die Kosten der Ingenieursausbildung zwischen 500 und 750 Tausend Dollar betragen. Hinzu kommt der Anteil derer, die die allgemeine Hochschulreife erreicht haben. Sie machen 35% der Geflüchteten aus. Diese Aussagen gelten nahezu unverändert für die nach Schweden und in die Niederlanden Geflüchteten.
Diese Berichte, die vor fast zwei Jahren erschienen sind, bestätigen, dass in Syrien weit mehr zerstört wurde als nur Städte und Infrastruktur. Auch menschliche und wirtschaftliche Ressourcen sind Opfer dieser Zerstörung geworden. Diese Ressourcen stehen nun in Europa zur Verfügung, werden aber nicht angemessen genutzt. Integration, das bestätigen Experten, gelingt nicht über Nacht. Es ist ein Prozess, der zwischen vier und acht Jahren andauert. Während dieser langen Zeit stehen Fachleute vor der Aufgabe, in ihrem Gebiet auf dem neuesten Stand zu bleiben. Sollte ihnen dies nicht gelingen, so werden die Träume und Ambitionen jener Mitbürger von Morgen wie ein Körper, der im Bett des Prokrustes liegt, gewaltsam zerstückelt und aufgelöst werden.