Liebe Anke,
du hast mir einen tadelnden Brief geschickt, in dem du mich erstaunt fragst: „Warum hasst du Deutschland so, Walaa? Ich lese deine Beiträge auf Facebook, von denen der elektronische Übersetzer das meiste nicht übersetzen kann. Aber das, was ich von den ironischen Texten und Fotos verstanden habe, macht mir deine große Freude über die Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der vergangenen Europameisterschaft deutlich.”
Dein Brief hat mich anfangs verwundert, aber nach kurzer Zeit fiel mir ein, dass ich dir einiges über uns erzählen muss. Über uns aus dem Nahen Osten – oder insbesondere aus Syrien, um diese Unklarheit gleich auszuräumen. Du sollst wissen, meine Liebe: Ich hasse Deutschland nicht und die Deutschen natürlich auch nicht. Ich bin viel zu einfach gestrickt, um wirklich zu hassen. Selbst wenn ich wütend bin, dann ist diese Wut gegen jede Demütigung, die ich erlebe oder beobachte, gerichtet. Das ist meine Art, mit all den Konflikten, die aus der Einteilung von Menschen in Dualismen resultieren, umzugehen: Weiß und Schwarz, Ost und West, Gastgeber und Flüchtling… Ich werde sogar wütend, wenn ich mit meinen Landsleuten über die Lage in unserem Land streite. Die ganze Welt ist darin verwickelt und richtet ein Blutbad an, das wirklich schockierend ist. Und das mich dazu veranlasst, das heutige Datum nachzuprüfen, um mich zu vergewissern, dass wir nicht im Mittelalter leben! Obwohl ich erst vor Kurzem einen datierten Brief erhalten habe, muss ich den Zeitpunkt überprüfen.
Ich kritisiere alles, was die Menschlichkeit verkommen lässt oder hinter enge Identitäten und Zugehörigkeiten zurückfallen lässt, die man sich nicht ausgesucht hat. Doch wenn ich allein bin, verliert sich die Wut und ich fresse meine ganze Trauer und Enttäuschung aufs Neue in mich hinein – als Mensch und als Syrerin. Das ist eine Trauer, die einen dazu bringt, allem zu entsagen – sogar der Wut, Anke. Ich trauere, verzeihe allem Bösen dieses Planeten und hege Hassgefühle gegen mein eigenes Dasein. All dies hat nichts mit Fußball zu tun, meine Liebe. Wir aus dem Nahen Osten sind radikal, sogar in der Liebe. Weil wir wütend sind über den radikalen Hass einiger unter uns und darüber, wie radikal die Welt uns unsere Rechte verweigert. Deshalb ist Fußball eines der wenigen Dinge, über die ich mich seit Beginn des Blutvergießens, des Scheiterns und des Verlustes in meinem Land begeistern kann.
Wir sind Fans des Nahen Ostens. Wir verwandeln die großen Fußballmeisterschaften in mörderische Schlachten zwischen sportlichen Gegnern, um unsere eigenen Niederlagen zu vergessen. Um zu vergessen, dass die Freiheit im blutigen Krieg um ein korruptes Regime wohl verlieren wird. Wir sind radikal in der Liebe zu unseren europäischen und lateinamerikanischen Mannschaften. Wir feuern sie an, da wir wissen, dass der Traum unserer Nationalmannschaften, bis zur Weltmeisterschaft zu gelangen, reines Wunschdenken ist.
Wie sich das Anfeuern für dich und deine Freunde in eine nationale Aufgabe verwandelt – das ist weit entfernt von unserem Hass auf unser Land, während wir unter dem Vorwand, gegen das Regime zu protestieren, unterdrückt und mit der roten Karte hinausgeworfen werden.
Wir sind in Ländern aufgewachsen, in denen all unsere Träume von despotischen Herrschern an den Rand gedrängt werden. Länder, in denen Korruption und Vetternwirtschaft auch in den Fußball eindringen. Dort, wo die erstaunliche, außergewöhnliche Begabung eines syrischen Kindes wie Ahmad Al-Zaher, der den Deutschen mit seinem Talent imponierte, vergeudet wird. Er kam aus einer einfachen Gegend, in der Kinder sich selbst ihre behelfsmäßigen Spielfelder bauen, weil die Regierung es versäumt, sich darum zu kümmern.
Ich bin eine syrische Frau, die gegen das Scheitern im Sport ankämpft. Einer der lustigen Punkte auf meiner Wunschliste ist es, ein Fußballspiel anzuschauen. Und zwar von der Tribüne aus, die in einem Land, in dem selbst die Ausgegrenzten die Frauen ausgrenzen, normalerweise den Männern vorbehalten ist.
Daher habe ich eine ironische Kampagne ins Leben gerufen, um syrischen Frauen die Spielregeln zu erklären. Die meisten von ihnen mögen dieses „Männerspiel“ nicht, da sie es nicht verstehen. Sogar die Nationalhymne, die eine deutsche Frau, die Fußball nicht mag, berühren kann, hat keine Wirkung! Ganz einfach, weil wir unsere Nationalhymne, in der die Nation überhaupt keine Erwähnung findet, nicht mögen. Weil sie Erinnerungen daran weckt, wie unsere Lehrer uns mit Schlägen dazu trieben, vor der Fahne und dem Machthaber zu salutieren.
Ich hasse Deutschland außerhalb des Rasens überhaupt nicht. Mein Hass auf den deutschen Fußball wird von einem alles andere als sachlichen Grund beherrscht: Es ist meine Bevorzugung der spanischen Mannschaft und meine Liebe zu ihr. Diese Liebe bringe ich nicht dem Land Spanien und seinen Einwohnern in gleichem Maße entgegen, denn ich habe dieses Land ganz einfach noch nie besucht. Ich habe auch keine spanischen Freunde. Meine Bewunderung für einiges, was ich über Spanien gehört habe, ähnelt meiner Bewunderung für Deutschland, bevor ich nach einer wahnsinnigen Reise endlich ankam, um hier zu leben. Ich habe stets meinen Respekt vor diesem Land und ebenso vor Japan ausgesprochen. Davor, dass sie sich aus der Asche eines mörderischen Krieges erhoben. Deutschland stieg aus dem Abgrund des Hasses und reihte sich wieder in die Staaten dieses verrückten Planeten ein, um mit dem abscheulichen Nazi-Kapitel abzuschließen. Dies veranlasst mich zu der Hoffnung, dass auch mein Land sich wieder erheben wird, wenn Willkür, Militär, Islamisten, Hunger, Blutvergießen und all die anderen Schrecken es ausgezehrt haben. Das syrische Volk hat das fortschrittliche Deutschland stets beneidet und wollte am fairen Wettlauf der Völker um zivilisatorische Errungenschaften und Erfolge teilnehmen.
Ich bin nach Europa geflüchtet vor Dingen, die jemandem, der gerade Popcorn macht, um der Fußballnationalmannschaft beim Siegen zuzuschauen, nicht in den Sinn kommen. Geflüchtet vor einem unsinnigen Spiel zwischen dem Schönen und dem Abscheulichen in meinem Land.
Ich fühle dir gegenüber keinen Neid, Anke, sondern liebevolle Bewunderung. Daher entschied ich mich, als ich nach Europa kam, in Deutschland zu bleiben. Und wenn ich übertreibe mit meinem Spott über die Niederlage der deutschen Mannschaft, dann nur, weil meine syrischen Freunde und ich Spaß daran haben, uns Witze über Niederlagen im Fußball auszudenken.
Ich hasse die Deutschen und Deutschland nicht. Ich polemisiere gegen die Deutschland-Fans unter den Syrern in einem Festival des Lachens am Rande des Fußballs. Das ist unser Trost, während wir darauf warten, dass die Blutspiele in unserem Land entschieden werden. Während einige von uns auf die Entscheidung über ihren Asylantrag warten und wir alle auf ein Ende der langwierigen Debatte über uns Flüchtlinge in Deutschland hoffen, bei der wir nicht mitreden können.
Wir feuern bei einer Meisterschaft die Nationen Europas an, während die Menschheit ihre Entscheidung darüber fällt, ob sie ihren Hass gegen uns enthüllen oder weiter auf die Diplomatie vertrauen wird.
Ich hasse Deutschland nicht, Anke. Im Gegenteil! Ich hasse auch die Deutschen nicht, sondern ich mag dich ganz besonders. Denn du verstehst meistens meine Witze, über die die Deutschen wegen kultureller Unterschiede nicht lachen. Und weil es dich besorgt macht und du mich tröstest, wenn ich rassistisch beleidigt werde. Und weil du nur wenig und fehlerhaftes Englisch sprichst, genau wie ich. Und weil du, auch wenn du von diesem Brief kein einziges Wort verstehst, da du die arabische Sprache nicht beherrschst, mir in einem weiteren Brief antworten wirst: „Schön, dass wir dieses Missverständnis zwischen uns ausgeräumt haben.“
Alles Liebe,
Walaa
Aus dem Arabischen übersetzt von Sophie Schabarum