Von Lilian Pithan
Wie schreibt man über den Krieg? Das Grauen des täglichen Mordens in Worte zu fassen, kann ohne Übertreibung als eine Königsdisziplin der Literatur bezeichnet werden. Man mag das militärhistorisch angehen, wie es beispielsweise Leo Tolstoi in Krieg und Frieden tut, oder wie Franz Werfel in Die vierzig Tage des Musa Dagh eine individualpsychologische Analyse vor dem Tableau eines Völkermords liefern. Oder man konzentriert sich, wie die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozie Adichie in Half of a Yellow Sun, auf die Geschichten einiger weniger Zivilisten, die die Kriegshandlungen nicht überblicken und deren Leben sinnlos verwüstet wird.
Ungleich schwerer wird das Ganze, wenn man sich als Autor selbst im Kriegsgebiet befindet und den Einzug des Todes in eine Stadt nicht aus sicherer physischer oder historischer Distanz beschreibt, sondern selbst der nächste Tote sein könnte. In dieser Situation befand sich der syrische Schriftsteller Niroz Malek, als er die 57 Miniaturen schrieb, die unter dem Titel Der Spaziergänger von Aleppo im Weidle Verlag erschienen sind. Seine Perspektive auf die Kriegshandlungen ist mikroskopisch: Zwischen Checkpoint, Café und Zitadelle dokumentiert er seinen Alltag. Mal erinnert er sich an eine Geliebte aus Jugendtagen, mal denkt er über einer Tasse Kaffee darüber nach, wie er die allgegenwärtigen Straßensperren der syrischen Armee am besten umgehen kann. Das mag gelegentlich profan erscheinen, passt aber sehr gut zum tagebuchartigen Charakter von Maleks Erzählungen. Mit ein Grund, warum er seine Heimatstadt nicht verlassen will, ist seine prächtige Privatbibliothek, in der Klassiker der Literatur aus Europa und der arabischen Welt Seite an Seite stehen.
Kein Tag und kein Text vergehen, an dem nicht ein Freund, eine Nachbarin oder ein Kind den Bomben und Scharfschützen des Regimes zum Opfer fallen. Wie abrupt der Tod in Lebensläufe eingreift, zeigt sich auch daran, wie viele der Charaktere, denen der Erzähler bei seinen Spaziergängen begegnet, sich wenige Zeilen später als tot entpuppen. Als ob sie ihr eigenes Ableben verpasst hätten, wandern sie unermüdlich weiter durch Aleppo, auf der Suche nach einem Hemd, einem Stück Brot oder einer geliebten Person. Niroz Malek, der seit 1977 neun Erzählbände und sechs Romane geschrieben hat, veröffentlichte seine Miniaturen über den Krieg zuerst auf Facebook. Unter dem Titel Le Promeneur d’Alep erschienen sie 2016 in dem französischen Verlag Le Serpent à Plumes und wurden im gleichen Jahr mit dem Prix Lorientales ausgezeichnet.
Nach Deutschland geholt hat den schmalen Band der Verleger Stefan Weidle. Übersetzt hat ihn Larissa Bender, die in den letzten Jahren einiges dafür getan hat, syrische Autorinnen und Autoren in Deutschland bekannter zu machen. Mittlerweile hat es Der Spaziergänger von Aleppo sogar auf Platz zwei der Weltempfänger-Bestenliste der Gesellschaft für Weltliteratur LITPROM geschafft. Weitere Übersetzungen sind geplant, unter anderem ins Norwegische. Der Autor selbst lebt weiterhin in Aleppo und dokumentiert seinen Alltag nach der Wiedereroberung der Stadt durch die syrische Armee. Nach dem offiziellen Ende der Bombardements im Dezember 2016 mag Aleppo wieder sicherer geworden sein. Das tägliche Grauen aber ist noch nicht vorbei.
Niroz Malek: Der Spaziergänger von Aleppo, übers. von Larissa Bender, Weidle Verlag, 144 Seiten, 17 Euro.