Tarek Aziza*
Ein Ende der Kontroverse über den Themenkomplex “Flucht und Migration” ist leider nicht absehbar. Es scheint das Thema unserer Zeit zu sein, in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Speziellen.
Wie kann man sich sonst erklären, dass die Regierungskoalition in Deutschland beinahe an einem “Asylstreit” zerbrochen wäre? Dabei waren der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags doch bereits schwierige Verhandlungen vorausgegangen. Die Fortführung der Koalition erforderte nun weitere Verhandlungen zwischen Bundeskanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer, an deren Ende eine “Einigung” zur Regulierung der Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge und Migranten stand. Allerdings scheinen sich die Beteiligten nicht ganz einig über deren Auslegung und Umsetzung zu sein.
Vor dem Hintergrund dieses wiederkehrenden “Asylstreits” stellen sich die folgenden Fragen: Haben die europäischen Regierungen, und speziell die deutsche Regierung, keine anderen Probleme, die ähnlich viel Aufmerksamkeit verdienen? Gibt es keine anderen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ziele mehr? Warum stand das Thema “Flucht und Migration” in den letzten Jahren immer ganz oben auf der Prioritätenliste?
Was ist etwa mit dem sozialen Wohnungsbau? Sowohl die Zahl als auch die Qualität der verfügbaren Sozialwohnungen in den Großstädten gehen immer weiter zurück. Das Problem verschärft sich zusehends, weil hier eine politische Strategie fehlt. In Berlin etwa feiern selbst viele Deutsche die Unterzeichnung eines Mietvertrags für eine bescheidene Wohnung nach zwei Jahren Wartezeit wie einen Lottogewinn! Ein anderes Thema: Was gedenkt die Regierung gegen die fehlenden Kita-Plätze zu unternehmen? Obwohl die deutsche Politik Familien und Kinder fördert, leiden Tausende Familien darunter, dass sie keine Betreuungsplätze für ihre Kinder finden können. Was ist mit der sozialen Schieflage in Deutschland? Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Hinzu kommt ein überbordendes bürokratisches System, das sich nicht nur negativ auf das Leben der Bürger auswirkt, sondern auch die Fähigkeit der Regierung zur effizienten Problemlösung beeinträchtigt.
Die aktuelle politische Situation ist paradox: Die Regierung scheint auf der Flucht zu sein. Sie flüchtet vor wichtigen politischen Herausforderungen, die breite Teile der Bevölkerung betreffen. Auf der Flucht vor dieser Verantwortung flüchtet sie sich zu den Flüchtlingen. Um ihre Flucht zu rechtfertigen, konzentriert sie ihre Aufmerksamkeit in übertriebenem Maße auf ein aktuelles aber sekundäres Thema wie “Flucht und Migration”. So kann sie die Augen vor relevanten Problemen verschließen, die bereits seit langer Zeit bestehen und nichts mit der “Flüchtlingskrise” zu tun haben.
Es bleibt zu hoffen, dass irgendwann niemand mehr flüchten muss. Nicht die Flüchtlinge, und auch nicht die Regierungen!
*Tarek Aziza. Syrischer Schriftsteller und Mitglied der Abwab-Redaktion.
Übersetzung: Mohamed Boukayeo, Mahara-Kollektiv, boukayeo@mahara-kollektiv.de