Rosa Yassin Hassan.
Die jüngsten Demonstrationen in Deutschland zur Unterstützung des palästinensischen Aufstands waren nicht die ersten, bei denen sich Einwanderer aus diktatorischen Herkunftsländern beteiligten. Denn auch Syrer, Iraker, Iraner und andere Einwanderer, die politische Themen ihrer Herkunftsländer im Exil vertreten, haben bereits ähnliche Demonstrationen organisiert.
Paradoxerweise leiden diejenigen, die sich noch gut an die erlebte Unterdrückung im Heimatland erinnern können, am meisten unter dem Exil. So konnten beispielsweise die Syrer erst hier das Demonstrieren erproben. In Syrien kam eine Demonstration einer Kriegserklärung und der Demonstrant einem Märtyrer gleich. Aber das Gefühl der Entfremdung gab es auch schon in unserem Heimatland, wo uns Tyrannen zwangen, zu Flüchtlingen zu werden. So wurde das metaphorische Exil zu einer Realität.
Aber warum erwacht jetzt, im Exil, das Gefühl der Entfremdung in uns? Liegt es daran, dass wir in unserem realen Exil die Freiheit haben, uns auszudrücken? Oder liegt es am Schock der Veränderung und der neuen Herausforderungen? Und warum drängt sich die Frage nach der Bedeutung des Exils und seiner Qualen geradezu auf? Liegt es an unserer vorgefertigten Meinung über eine bösartige Welt namens Exil, der eine schöne Welt namens Heimat gegenübersteht?
Ich glaube nicht! Diese trostlose Fremdheit wäre vielleicht vor einem Jahrhundert denkbar gewesen, als es keine Kommunikationsmittel gab, um mit geliebten Menschen in Kontakt zu bleiben. Nicht aber heute, im Zeitalter des Internets, wo ein Mann am Nordpol die Geburt seines Sohnes in Afrika per Skype miterleben kann.
So gesehen gibt es heute kein “Exil” im klassischen Sinne mehr. Vielleicht sind wir es, die “Exile” in unserem Inneren erschaffen und entscheiden, ob das, was wir erleben, ein Exil ist oder nicht! Mit der Zeit erlernt man die neue Sprache und erschließt sich die hiesigen Regeln und Gesetze. Man kann sich ein soziales Umfeld aufbauen, sich an neue Orte gewöhnen und sie mit neuen Erinnerungen verknüpfen. Ohnehin leben die meisten von uns hier in einer Freiheit, von der wir vorher nur träumen konnten. Die Herausforderungen im Leben, denen wir uns hier gegenüber sehen, waren in unseren Heimatländern viel größer.
Vielleicht müssen wir Heimat heute als einen imaginären und metaphysischen Ort neu definieren. Als Erinnerungsspeicher und nicht als ein Stück Land, das geografisch oder ethnisch definiert werden kann. Wir sind schlicht und einfach Wesen mit Erinnerungen, die damit kämpfen, nicht von ihnen aufgesogen zu werden wie von einem schwarzen Loch. Tagtäglich kommen neue Erinnerungen hinzu.
Was wir bereits kennen und gewohnt sind kann daher niemals unser ganzes Leben sein. Es kann nicht über einen einzigen Ort oder bestimmte Menschen definiert werden. Vielmehr definiert es sich auf jedem Fleck der Erde mit anderen Menschen und Orten neu. Ebenso wenig kann das Leben über nur eine Zugehörigkeit definiert werden. Das wäre viel zu eng gefasst und käme einem ideellen Gefängnis gleich. Die Offenheit für unterschiedliche Zugehörigkeiten und widersprüchliche Identitäten wird unser Leben bereichern. Vielleicht wird sie auch dabei helfen, die gelebten „Exile“ neu zu erleben.
Übersetzung: Mohamed Boukayeo, Mahara-Kollektiv, boukayeo@mahara-kollektiv.de