Khawla Dunia. Eines fernen Tages wird ein Vater seinem im rauen Exil geborenen, pubertierenden Sohn folgende wichtige Lehre mit auf den Weg geben: „Mein Sohn, mach keine Bemerkungen über deutsche Frauen. Bleiben wir lieber bei den Araberinnen. Die verstehen wir und sie verstehen uns.“ Jener Vater, der in Angst davor gelebt hat, was ihm wohl passieren könnte, wenn er westliche Frauen belästigt. Er wird es diesen Frauen niemals nachsehen, dass sie sich weder auf ihn selbst noch auf seinen Trieb eingelassen haben, der fundamental wurde, nachdem er allein in der Fremde in einem Flüchtlingslager gestrandet war oder so etwas wie Lebenskontinuität zurückerlangt hatte.
Erste Reaktion der meisten jungen Männer: Ich bin es nicht, wir sind es nicht. Warum sollen wir uns immer alle verteidigen und rechtfertigen? Als ob wir in einem Schilfboot vom Himmel herab in dieses Land eingeschwebt wären und niemals Fehler gemacht hätten, machen oder je machen würden. Aber „die“ mit ihren Nachforschungen in unserem Unterbewusstsein, in dem, womit wir aufgewachsen sind, und in der Kultur einer Gesellschaft, in der man die Frau lediglich als Objekt der sexuellen Lust und einer flüchtigen oder dauerhaften Laune zur Befriedigung der anderen Bedürfnisse (Kinderkriegen, Kinder beaufsichtigen, Saubermachen, Kochen, Befehlsempfang…) sieht!
Wer von uns Frauen im Orient war nicht schon selbst Opfer von Belästigung der unterschiedlichsten Art und wo auch immer? Auf dem Weg zur Schule oder in die Universität, auf der Arbeit, durch den Nachbarssohn oder einen Verwandten, im Bus oder im Auto. Wer von uns hat nicht schon solche Erfahrungen mit sich rumgeschleppt, bis man zuhause erzählen oder den Freundinnen zuraunen konnte, dass man jemandes „Praxis“ über sich ergehen lassen musste. Noch viel schlimmer ist es, wenn man unter Bedrängnis an einem öffentlichen Ort laut wird und den Angreifer fragt: „Hast du nicht auch Schwestern, um die du Angst hast?“
Dieser Vergleich zwischen mir, dem Mädchen, und den Schwestern dessen, der mich belästigt, lag immer nahe, denn er musste doch befürchten, dass seinen Schwestern durch jemanden ähnliches zustößt, der zufällig vorbeikommt. Stets zog er sich erst einmal auf eine Verteidigungsposition zurück, bevor er aggressiv wurde. Als Mädchen wusste man ja auch, dass kein Gesetz, ja nicht einmal die Menschen um einen herum, einen schützen. Im Gegenteil, man sei ja selbst schuld, sei es wegen der Kleidung oder des Make-up, oder einfach, weil man weiblich ist. Da uns das alles leider dennoch nicht bewogen hat, Karate zu lernen oder gar eine Pistole zu tragen, auch wenn das in der heutigen chaotischen Zeit in Syrien nicht die schlechteste Lösung wäre, nehmen die Fälle von Übergriffen auf Frauen zu.
In der orientalischen Belästigungskultur wird der leichtlebige junge Mann, der Don Juan, vermarktet, auf den die Mädchen schon fliegen, wenn sie ihn nur flöten hören: „Ich lege dir mein Herz zu Füßen“ oder „meine Süße“ oder „meine Gazelle“ oder „Entchen“ oder vielleicht sogar „Gänschen“. Dabei bekommt man als Mädchen oder Frau aus Gründen, die gar nichts mit einem selbst zu tun haben, permanent so unterschiedliche Beleidigungen zu hören wie: „Wie hässlich bist du denn!“ oder „Die hübscheste ist die in der Mitte“ oder „Was für ein 10-Volt-Nacken!“ oder „Du steigst mir mit deinen Stöckelschuhen aufs Grab, zerfällst und legst dich an meiner Stelle hinein.“ [Zitat aus einem Text von dem Poeten Abu Layla, d. Übers.]. Dazu kommen die von der neuen Technik geschaffenen Möglichkeiten, wie Handy, Internet und soziale Medien, in denen sich so mancher traut, andere unter Druck zu setzen und ihnen gedankenlos moralischen und sogar materiellen Schaden zuzufügen.
Und viel zu oft geht es darüber hinaus: Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln oder übertriebener Körperkontakt in Sammeltaxis. Um zu erkennen, was los ist, braucht man nur in die Gesichter der Mädchen zu schauen. Sie werden abwechselnd rot und blass bei dem hilflosen Versuch, darauf aufmerksam zu machen, was ihnen gerade widerfährt. Sollte sich eine laut beschweren, würde sie zu hören bekommen, wie sich die jungen Männer um sie herum um die Wette aufregen: „Gott lässt nicht zu, dass du so redest. Du bist doch schuld! Wenn du dich nicht so aufführen würdest, würdest du gar nicht die Aufmerksamkeit dieser Rose auf dich ziehen.“ Die Jungs sind dann immer die unschuldige Rose, während die Mädchen nicht einmal Anrecht auf jemanden haben, der ihre Würde verteidigt.
Vielen ist gar nicht bewusst, dass sexuelle Belästigung mehr ist, als sie sich vorstellen, nämlich jede Form von unwillkommener Rede und/oder Handlung mit sexuellem Charakter, die den Körper, die Privatsphäre oder die Gefühle eines Menschen verletzt und dazu führt, dass sich diese Person unwohl, bedroht, verunsichert, verängstigt, missachtet, verschreckt, verunglimpft, beleidigt, terrorisiert, verletzt oder auf bloße Körperlichkeit reduziert fühlt. Dafür gibt es viele Beispiele:
Sichtbare Anmache: Sexuelle Absichten ausdrückende Mimik: Lippen lecken, mit den Augen zwinkern, den Mund öffnen.
Hörbare Anmache: Pfeifen, Rufen, Flüstern und jede Art von Geräusch mit sexuellem Bezug.
Kommentare: Anzügliche Bemerkungen zur Figur, zur Kleidung, zum Gang, zum Verhalten und zur Arbeit, anzügliche Witze oder Anekdoten oder auch Angebote sexueller oder beleidigender Art.
Verfolgen oder Stalking: Wiederholtes oder auch einmaliges Folgen, sowohl in kurzem als auch in weitem Abstand, zu Fuß oder mit dem Auto; Warten vor der Arbeitsstelle, an der Wohnung oder am Auto.
Aufforderung zum Sex: Aufforderung zu sexuellen Handlungen, Beschreibung sexueller Handlungen oder Phantasien, Frage nach der Telefonnummer, Einladung zum Abendessen oder andere Angebote mit implizit oder explizit sexuellem Charakter und deren Wiederholung, obwohl sie abgelehnt wurden, denn all das belastet die betroffene Person.
Unerwünschte Aufmerksamkeit: Einmischung in die Arbeit oder die Angelegenheiten der anderen Person durch unerwünschte Kontaktaufnahme, das Drängen darauf, sich gegenseitig kennenzulernen und Umgang miteinander zu pflegen, oder die Aufforderung zu sexuellen Handlungen als Gegenleistung für bestimmte Tätigkeiten oder andere Vorteile oder Leistungen, von sexueller Suggestion begleitete Geschenke oder das Bestehen darauf, die jeweilige Person zu begleiten oder zu ihrer Wohnung oder Arbeit zu fahren, obwohl dies abgelehnt wird (siehe dazu: „harassmap.org“).
Alle diese Handlungen sind sexuelle Belästigung, und in den Ländern, in denen der Mensch, seine Würde und seine Grundrechte geachtet werden, sind sie nach dem Gesetz strafbar. Jeder, der in ein solches Land kommt, das ihn aufnimmt, damit er dort leben kann, sollte sich diese Prinzipien verinnerlichen. Dann wird er solche Straftaten auch nicht begehen. Wir sollten uns alle aber auch vor Augen halten, dass Belästigung kein neues Phänomen ist und sich nicht auf einzelne Länder beschränkt. Den Unterschied macht allerdings der Umstand aus, ob es gesetzliche Regeln gibt, denen zufolge die Täter zu bestrafen und die Opfer zu beschützen sind.
In unseren Länden ist es leider noch immer so, dass sich die Gesetze darauf beschränken, die Menschen und insbesondere diejenigen Bevölkerungsschichten zu schützen, die noch schwächer sind als Frauen und Kinder. Die meisten vorgeschlagenen Lösungen scheinen sich eher gegen die Opfer zu richten, indem man sich tagtäglich befleißigt, immer neue Rechtsgutachten mit dem Ziel zu verkünden, die Frauen in ihrer Freiheit und ihren Bewegungsmöglichkeiten einzuschränken, nicht aber sie zu beschützen und diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die ihnen so schlimme Dinge antun.
Schlimmer noch: In einigen Fällen führt Belästigung zur Vergewaltigung, für die eine Frau mit dem Tod bezahlen muss. Sie, die in allen Lebensbereichen nicht selbst entscheiden darf, sondern nur als schwaches Wesen gilt, das Schutz und Bevormundung braucht, wird im Namen der Ehre und zur Reinigung von der Schande ermordet, und zur Belohnung kommt der Mörder für wenige Monate in Haft, um dann bei seiner Heimkehr wie ein Held empfangen zu werden.
Die größten Ängste haben heutzutage die allein reisenden Frauen in Flüchtlingslagern und in den Ländern, in die sie fliehen. Hier sind sie solchen Belästigungen besonders ausgesetzt, ohne zu wissen, dass sie für sich und ihre Kinder gegen jede Art von Übergriffen rechtlichen Schutz in Anspruch nehmen können. Um ihnen allen das bewusst zu machen, ist noch viel zu tun.
Dieser Artikel wurde im Rahmen der Kooperation von Abwab und WDRforyou übersetzt.