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Geflüchtete leben in der virtuellen Welt

Photo: Riyad Ne'mah

Von. Khawla Dunia*

Du bist ein Flüchtling! Welche Schwere diesem Wort doch anhaftet! Während die Syrerinnen und Syrer versuchen, ein neues Leben zu beginnen, gelingt es ihnen nur manchmal, dieser Schwere zu entkommen. Nicht entkommen können sie hingegen den Konsequenzen ihrer Flucht:

Den großen Schwierigkeiten ihres Alltags und ihrer schlechten psychischen Verfassung. Halt suchen sie in der Beziehung zu Freunden und Familie – und zu all denen, die in den vergangenen sieben Jahren das Gleiche durchgemacht haben. Die Dinge getan und erlebt haben, die sie sich vorher niemals hätten vorstellen können. Der Verlust ihrer Häuser, ihrer Arbeit, ihrer Familien und ihrer Freunde. Und am Ende: Der Verlust ihrer Heimat, der schleichend kam.

Oft werden wir von den Bildern und Videos, die im Sekundentakt in den sozialen Netzwerken geteilt werden, in das Leben der Anderen hineinversetzt. Aber sie sind nicht irgendwelche Anderen, sie sind unsere Spiegelbilder. Wie lächeln sie, wie trauern sie, wie leben sie ihr Leben? Es sieht aus wie ein normales Leben. Neidisch und niedergeschlagen fragen wir uns, wieso nicht auch wir einfach weiterleben können. Wie schaffen sie es, ihre Schwierigkeiten zu überwinden, während wir in ihnen versinken?

Die Behandlung des Themas Flucht in der sozialen Medien hat uns traumatisiert, genauso wie sie jene traumatisiert, die uns aufgenommen haben. Wir haben die Anschuldigungen gelesen, die gegen uns vorgebracht werden: Teure Kleidung, moderne Smartphones und merkwürdige Haarschnitte. Bilder, mit denen in Abhängigkeit von der aktuellen Politik der Medien umgegangen wurde, und die letztlich das Bild des Elends, des Todes und der Zerstörung verdrängten. Wer sind wir wirklich, und wer sind diese Syrer, die beim Überschreiten der Grenzen so glücklich aussehen?

Zunehmende Zahl der suicid gefährdeten Geflüchteten aus Syrien

Statistiken der Weltgesundheitsorganisation belegen ein Ansteigen der Selbstmordrate unter Syrern nach 2011, insbesondere unter Geflüchteten, was zu den Zahlen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen passt. Eine Befragung syrischer Geflüchteter im Libanon ergab, dass 41% der Jugendlichen schon einmal Suizidgedanken hatten, 17% trugen diesen Gedanken für einen längeren Zeitraum in sich und 24% gaben an, den Freitod als letzte Option in Erwägung zu ziehen.

Auch in Deutschland ist die Selbstmordrate unter Geflüchteten gestiegen, wie die Deutschen Welle auf ihrem Online-Portal berichtete: Zwischen 2014 und 2016 gab es mehr als 400 Selbstmordversuche.

Presseberichten zufolge ist es hauptsächlich die Verzweiflung über das endlose Warten auf die Familienzusammenführung, die syrische Geflüchtete in den Selbstmord treibt. Aber auch die Angst vor der Ablehnung des Asylantrags oder eine drohende Abschiebung sind wichtige Gründe.

Das Thema “Selbstmorde unter Geflüchteten” muss weit gründlicher untersucht werden, als dies bisher geschehen ist. Mehr noch als die tragischen Geschichten, die hinter dem Suizid erwachsener Syrerinnen und Syrer stehen, sollten uns hier die Selbstmorde von jungen Frauen, insbesondere von Minderjährigen, beschäftigen. Eine besondere Beachtung sollten wir der Rolle, die Verheiratung spielt, schenken. Ebenfalls einer näheren Betrachtung wert erscheint diese neue Verbindung zwischen der Wahl des Freitods, und unser Vorstellung dessen was nach dem Tod kommt, und was durch die Entscheidung zur Selbsstöttung zum Ausdruck gebracht wird.

Öffentlicher Suizid (Live-Übertragung)

Wer sich entscheidet, seinen Selbstmord mit einer Videokamera live zu dokumentieren, der macht aus dieser privaten Entscheidung eine öffentliche. Dieser Art der Dokumentation ist grundverschieden vom altbekannten Abschiedsbrief, in dem der Autor versucht, der Nachwelt etwas mitzuteilen und seinen Tod zu rechtfertigen. Hier wird der Moment des Todes mit einem Publikum geteilt, das ihm, selbst wenn es ein imaginäres ist, die Legitimität der Öffentlichkeit verleiht. Diese Öffentlichkeit besteht nicht nur während der Live-Übertragung, sondern geht darüber hinaus: Zustimmende und ablehnende Kommentare, Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche sowie eine Diskussion über die psychologische Betreuung von Geflüchteten, die dringend nötig ist, um ähnliche Fälle in Zukunft rechtzeitig zu erkennen.

Wir öffnen uns also den sozialen Medien. Auf der einen Seite erlauben sie uns, uns auf eine nie dagewesen Art und Weise mitzuteilen, auf der anderen Seite traumatisieren sie uns während wir nur vor einem Bildschirm sitzen. Wir versinken in ihnen und werden reizbar und angespannt, erschöpft bis depressiv. Wir leiden emotional oder fühlen uns übersättigt an virtuellen Gefühlen. Wir spüren, dass wir nicht allein sind, oder kapseln uns immer mehr von unserem Umfeld in der realen Welt ab. Wir integrieren uns in diese virtuelle Gesellschaft, von der denken, sie akzeptiere und umarme uns, und werden so sehr abhängig von ihr, dass wir sie sogar am Moment unseres Todes Anteil haben lassen.

Es scheint geradezu so, als wollten wir Geflüchteten der Welt eine gehörige Lektion erteilen, indem wir unseren Tod und dessen Nachwirkungen in der unermesslichen Welt des Internets verewigen. Aber dies ist ein komplexes Thema und wir sollten unsere Ideen lange reifen lassen, bevor wir sie aussprechen. Aber wie eilig wir es doch haben! Jede Sekunde eine neue Nachricht, die ein syrischer Geflüchteter irgendwo geschrieben hat … Unser Spiegelbild und gleichzeitig ein Spiegel, der uns vorgehalten wird.

Khawla Dunia ist Schriftstellerin aus Syrien und lebt in Deutschland und der Türkei.

Übersetzung: Mirko Vogel, Mahara-Kollektiv, vogel@mahara-kollektiv.de

Photo: Riyad Ne’mah

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الوجه السعيد للمنفى